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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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dass wir eure Hochzeit im Haus ihrer Mutter gefeiert haben. Ich habe Frau Hász kennen gelernt. Ich habe Klaras Bruder kennengelernt. Ich glaube nicht, dass Klara uns jemals mit ihrer Familie verwechseln könnte.«
    »So habe ich das nicht gemeint. Du verstehst mich absichtlich falsch.«
    »In Paris, da wart ihr vielleicht einfach nur zwei Ungarn, die sich Gesellschaft leisteten«, sagte Béla. »Aber hier, zu Hause, sieht das anders aus. Schau dich um! Die Reichen setzen sich nicht zu den Armen.«
    »Sie ist nicht ›die Reichen‹, Apa. Sie ist meine Frau.«
    »Ihre Familie hat ihren Neffen freigekauft. Der musste sich nicht beim Arbeitsdienst krumm und bucklig schinden. Für dich haben sie das nicht gemacht.«
    »Ich habe ihrem Bruder gesagt, dass es nicht infrage käme.«
    »Und er hat nicht widersprochen, oder?«
    Andras merkte, dass ihm warm im Nacken wurde; ein wütender Blitz durchfuhr ihn. »Es ist ungerecht von dir, das Klara vorzuwerfen«, sagte er.
    »Ungerecht ist es, dass einige arbeiten müssen und andere nicht.«
    »Ich bin nicht hergekommen, um mich mit dir zu streiten.«
    »Dann hör auf damit.«
    Aber es war schon zu spät. Andras war sauer. Er wollte keine Minute länger in der Nähe seines Vaters sein. Er legte Geld für das Bier auf den Tisch, doch sein Vater schob es weg.
    »Ich gehe spazieren«, sagte Andras und stand auf. »Ich brauche frische Luft.«
    »Na, dann lass dich von deinem alten Vater begleiten.«
    Er wusste nicht, wie er Nein sagen sollte. Sein Vater folgte ihm aus dem Lokal, und gemeinsam liefen sie durch das blaue Abendlicht. Entlang der Allee waren gelbe Straßenlaternen entflammt, die den blättrigen Putz und die verblassten Farben der Häuser beleuchteten. Andras dachte nicht darüber nach, wohin er ging; am liebsten wäre er schneller marschiert, hätte seinen Vater in der Dämmerung abgehängt, doch in Wahrheit war er erschöpft, ausgezehrt und todmüde. Er hastete weiter, vorbei am Hotel Aranybika, einer alternden Matrone in hölzerner weißer Tracht, vorbei an den beiden Türmen der reformierten Kirche mit ihren stumpfen Spitzen. Er ging weiter, mit gesenktem Kopf, bis er den Park gegenüber dem Déri-Museum erreichte, einem wuchtigen, gelb gestrichenen neobarocken Kasten. Der weich gezeichnete Aprilabend erinnerte ihn an tausend Abende, die er als Schüler hier verbracht hatte, allein oder mit Freunden, wenn er seine halbwüchsigen Probleme studierte wie die Seiten seiner Lieblingsbücher. In jenen Tagen hatte er sich immer mit dem Gedanken an Daheim trösten können, an das Stück Land in Konyár mit dem Obstgarten, der Scheune, dem Sägewerk und dem Mühlteich. Jetzt würde das Haus in Konyár nie wieder sein Heim sein. Seine Vergangenheit, seine Kindheit, war ihm gestohlen worden. Und seine Zukunft, das Leben, das er sich hier als Schüler ausgemalt hatte, war ihm ebenfalls gewaltsam entrissen. Er setzte sich auf eine Bank und beugte sich vornüber, legte den Kopf in die Hände; auf einmal wurde er von dem Schmerz und dem Heimweh, unter denen er seit achtzehn Monaten litt, geradezu überwältigt, und er konnte nicht anders, als heiser in die Nacht zu schluchzen.
    Glücks-Béla betrachtete seinen Sohn, diesen Jungen, dessen Sorgen seinem Herzen immer am nächsten gewesen waren. Er selbst hatte nie zum Weinen geneigt, kannte es auch nicht von seinen Söhnen. Er hatte ihnen beigebracht, ihren Schmerz in Arbeit zu verwandeln. Schließlich hatte er so sein eigenes Leben gerettet. Seine Söhne hatte er nicht besonders zärtlich großgezogen; das war der Bereich ihrer Mutter gewesen, nicht seiner. Doch als er seinen Sohn jetzt betrachtete, diesen kranken, zerschlagenen jungen Mann, der heftig in sich hinein schluchzte, wusste er, was er zu tun hatte: Er setzte sich neben Andras auf die Bank und legte die Arme um ihn. Seine Liebe hatte für diesen Jungen stets etwas Besonderes bedeutet. Er hoffte, dass es immer noch so war.
    Eine Woche blieben sie in Debrecen. Seine Mutter machte ihm Essen, pflegte seine versehrten Füße und bereitete ihm heiße Bäder in der Küche; sie lachte über Mendels Geschichten von den Kameraden beim Arbeitsdienst und putzte zusammen mit Klara das Haus für Pessach. Die neue Küchenhilfe, ein älteres Fräulein namens Márika, entwickelte eine heftige Zuneigung zu Mendel, der, wie sie behauptete, ihrem im Großen Krieg gefallenen Bruder wie aus dem Gesicht geschnitten war. Sie machte ihm heimlich Geschenke, Wollsocken und Unterwäsche, die einen

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