Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
allen?«
Novak schaute unter seinen ergrauenden Brauen zu ihm auf; die letzte Spur von Zorn war aus seinem Blick gewichen. »Am Ende nur eines«, sagte er. »… wer durch Feuer und wer durch Wasser, wer durch Schwert und wer durch Hunger, wer durch Sturm oder wer durch Seuche. Sie kennen das Gebet, Andras.«
»Verzeihen Sie mir«, sagte Andras. »Verzeihen Sie mir, dass ich gesagt habe, Sie wären kein Jude.« Denn es war eine Zeile aus der Liturgie von Rosch ha-Schana, ein Gebet über die möglichen Todesarten. Bald würde Andras dieses Gebet selbst sprechen, inmitten seiner Kameraden im Lager von Bánhida.
»Ich bin Jude«, sagte Novak. »Deshalb habe ich Sie in Paris eingestellt. Sie waren mein Bruder.«
»Es tut mir leid, Novak-úr«, sagte Andras. »Es tut mir leid. Ich wollte Ihnen nie etwas Böses. Sie waren immer freundlich zu mir.«
»Es ist nicht Ihre Schuld«, sagte Novak. »Ich bin froh, dass Sie hergekommen sind. So können wir uns wenigstens voneinander verabschieden.«
Andras erhob sich und setzte seine Militärmütze auf. Novak streckte die Hand über den Tisch, und Andras ergriff sie. Es blieb nichts weiter zu tun, als sich Lebewohl zu sagen. Sie taten es mit wenigen Worten, und dann verließ Andras das Büro und zog die Tür hinter sich zu.
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30.
Barna und der General
ALS ANDRAS AM ABEND NACH HAUSE kam in die Wohnung auf der Nefelejcs utca, erzählte er Klara weder etwas von dem, was zwischen ihm und ihrem Bruder beredet worden war, noch erwähnte er das Treffen mit Novak. Er sagte nur, dass er einen langen Spaziergang durch die Stadt gemacht und darüber nachgedacht hätte, was er tun würde, wenn er vom Arbeitsdienst zurückkäme. Er wusste, dass sie seine nervöse Zerstreutheit bemerkte, doch sie bat ihn nicht, seine Stimmung zu erklären. Dass er am nächsten Tag nach Bánhida zurückfuhr, schien Erklärung genug zu sein. Schweigend aßen sie in der Küche zu Abend, die Stühle nah beieinander an dem kleinen Tisch. Anschließend hörten sie sich im Wohnzimmer Sibelius auf dem Grammofon an und schauten zu, wie das Feuer im Kamin brannte. Andras trug den Flanellmorgenmantel, den Klara ihm geschenkt hatte, dazu Pantoffeln aus Lammwolle. Er hätte sich kein behaglicheres Bild vorstellen können, doch bald würde er fort sein, und Klara müsste sich wieder allein dem stellen, was auch immer kommen mochte. Je bequemer er sich fühlte, je zufriedener und schläfriger Klara aussah, als sie sich gegen die Sofakissen lehnte, desto bedrohlicher erschien ihm die Aussicht auf das, was vor ihnen lag. György hatte recht gehabt, Klara vorzuenthalten, was geschehen war, dachte Andras. Ihre Gelassenheit war ihm Lohn genug für seine Unehrlichkeit. Ruhig und heiter erzählte sie von den Veränderungen, die die Schwangerschaft in ihrem Körper hervorrief, und von der Wohltat, mit ihrer Mutter darüber sprechen zu können. Sie war zärtlich zu Andras, körperlich liebevoll; sie wollte mit ihm schlafen, und er war froh über die Ablenkung. Doch als sie im Bett lagen, ihr Körper mit dem ungewöhnlichen neuen Schwerpunkt, musste Andras den Blick abwenden. Er hatte Angst, Klara würde spüren, dass er etwas vor ihr geheim hielt, und wissen wollen, was es sei.
Als er wieder in Bánhida war, blieb ihm zumindest diese Gefahr erspart. Er war noch nie so dankbar gewesen, schwer arbeiten zu müssen. Das endlose Schaufeln von Braunkohle in verstaubte Karren, das immerwährende Ziehen und Schieben der Wagen über die Gleise betäubte seinen Geist. Beim abendlichen Appell konnte er seinen Körper mit Leibesübungen beschäftigt halten, konnte sich in die Plackerei der übrigen Aufgaben stürzen – das Putzen der Baracken, das Hacken von Feuerholz, das Wegbringen von Küchenabfall –, alles in der Hoffnung, dass die Erschöpfung ihn schnell einschlafen lassen würde, ohne dass sein Kopf den großen Koffer mit Sorgen öffnete und anfing, sie anschaulich vor ihm auszubreiten, eine nach der anderen. Selbst wenn es Andras gelang, diesen düsteren Aufmarsch zu vermeiden, war er der Gnade seiner Träume ausgeliefert. In dem Traum, der am häufigsten wiederkehrte, lag Ilana im Krankenhaus und rang mit dem Tod, aber es war nicht in Paris und auch nicht in Budapest; dann war es nicht Ilana, sondern Klara, und er wusste, dass er ihr Blut spenden musste, doch er wusste einfach nicht, wie er es aus seinen Adern in ihre bekommen sollte. Mit einem Skalpell in der Hand stand er an ihrem Bett, und sie lag blass und
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