Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
hinunterging, wurde er immer unruhiger, bis er merkte, dass er sich in der Nähe des Opernhauses befand, wo, soweit er wusste, Zoltán Novak immer noch Intendant war. Es war über zwei Jahre her, dass er Novak zum letzten Mal gesehen hatte; damals, auf der Feier bei Marcelle. Andras fragte sich, ob die Wunden, die Novak an jenem Abend davongetragen hatte, ihn zu einem grausamen, hinterlistigen Plan verleitet haben mochten – ob er seine Frau möglicherweise auf Klaras Zwangslage aufmerksam gemacht hatte, wohl wissend, dass Edith sie loswerden wollte. Ob Novak auf diese Weise Verrat an Klara geübt hatte. Andras blieb auf der Straße vor dem Operaház stehen und überlegte, was er jetzt und hier zu Novak sagen würde, wenn er in dessen Büro gehen und ihn zur Rede stellen könnte. Welche Anschuldigungen würde er erheben, was würde Novak gestehen? Das Beziehungsgeflecht zwischen den dreien, zwischen Andras, Novak und Klara, war so verworren, dass sich das ganze Knäuel zusammenzog, wenn man auch nur an einem Faden zupfte. Es war möglich, dass Andras, wenn er das Gebäude betrat, mit dem Wissen wieder herauskommen würde, dass Klara ihn betrogen hatte, dass sie ihm seit Monaten untreu war – dass sogar das Kind in ihrem Bauch von einem anderen stammte. Aber war es nicht schlimmer, unwissend abseits zu stehen, nach Bánhida zurückzukehren und keine Klarheit zu haben? Die Türen des Operaház waren zum frischen Nachmittag hin geöffnet; innen standen Frauen und Männer vor dem Kassenschalter Schlange. Andras atmete tief durch und ging hinein.
Wie viele Monate waren vergangen, fragte er sich, seit er in einem Theater gewesen war? Es war in seinem letzten Sommer in Paris gewesen – Klara und er hatten sich die Generalprobe von La Fille Mal Gardée angesehen. Jetzt marschierte er durch einen der romanischen Torbögen in den Theatersaal und ging den mit Teppich belegten Gang hinunter. Auf der Bühne war der Vorhang beiseitegezogen und gab den Blick auf einen italienischen Dorfplatz mit einem weißen Marmorbrunnen frei. Die ihn umstehenden Gebäude waren aus gelb bemaltem Karton geschnitten, die Markisen aus grün-weiß gestreiftem Segeltuch. Ein Tischler beugte sich über Stufen, die in eines der Häuser führten; der Widerhall seines Hammers im weiten Zuschauerraum versetzte Andras einen nostalgischen Stich. Wie sehr wünschte er sich, hier zu arbeiten, ein Bühnenbild aufzubauen oder auch nur einen Kaffeetisch für die Schauspieler zu bestücken, ihre Briefchen zuzustellen oder ihnen Bescheid zu geben, wenn ihr Auftritt nahte. Wie sehr wünschte er sich, zu Hause einen Schreibtisch voll unfertiger Zeichnungen zu haben, die auf ihn warteten, einen Abgabetermin, der in naher Zukunft drohte.
Er lief bis zur ersten Reihe des Zuschauerraums und stieg die Stufen seitlich der Bühne hinauf. Der Tischler sah nicht von seiner Arbeit auf. In den Kulissen rückte ein Mann, wohl der Requisiteur, Gegenstände in einem Regal zurecht; das Heulen einer elektrischen Säge ertönte aus der Bühnenbildnerwerkstatt, und der Geruch frisch geschnittenen Holzes überfiel Andras mit den vielschichtigen Erinnerungen an das Sägewerk seines Vaters, an das Sarah-Bernhardt, an Monsieur Forestiers Werkstatt und an das Arbeitslager in den Waldkarpaten. Er wagte sich weiter vor in die hinteren Korridore des Theaters, eine Treppe hinauf zu den Garderoben; hinter den weiß gestrichenen Türen mit ihren gestochen scharf geschriebenen Namen in den Messinghaltern verbarg sich ein Durcheinander aus Schminkkoffern, schmutzigen Morgenmänteln, Federhüten, zerrissenen Strümpfen, eselohrigen Manuskripten, schimmeligen Sesseln, gesprungenen Spiegeln und verwelkten Blumensträußen, wusste Andras. Als junges Mädchen musste Klara sich für ihre Vorstellungen in einem dieser Räume umgezogen haben. Andras erinnerte sich an ein Foto aus jener Zeit: Klara in einem Rock aus zerrissenen Blättern, ins Haar gewebte Zweige wie eine Waldnymphe. Fast konnte er ihren sylphidenhaften Schatten sehen, der von einem Zimmer durch den Flur ins nächste huschte.
Andras lief den Gang hinunter und nahm die nächste Treppe, oben schloss sich ein weiterer Flur mit Garderoben an. Er endete vor einer Holztür mit einem weißen emaillierten Namensschild, dasselbe, das im Sarah-Bernhardt in Paris an Novaks Tür hing: drei Wörter in schwarzen Buchstaben, auch wenn die goldene Schattierung und die Schnörkel inzwischen matt geworden waren: Zoltán Novak, Directeur . Hinter der
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