Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Termindruck unter. Nachdem Tibor seine Gesundheit und Kraft wiedererlangt hatte, fand er ebenfalls eine Anstellung. Er wurde Chirurgieassistent in einem jüdischen Krankenhaus im Erzsébetváros. Im März gab es Neuigkeiten von Elisabet: Paul war zur Marine gegangen und würde Ende April in Richtung Südpazifik auslaufen. Nach der Wehrverpflichtung ihres Sohnes und der Geburt ihres ersten Enkelkindes im vergangenen Sommer hatten Pauls Eltern voller Reue auf ganzer Linie nachgegeben und darauf bestanden, dass Elisabet und Klein-Alvie bei ihnen in Connecticut lebten. Elisabet hatte eine Fotografie der Familie in Wintermontur beigelegt, sie selbst in einem dunklen Kapuzenmantel, den vermummten Alvie in ihren Armen, Paul neben ihnen mit dem Seil eines langen Schlittens in der Hand. Ein weiteres Bild zeigte Alvie in Samtjäckchen und kurzer Hose ganz allein inmitten von Kissen auf einem Stuhl. Die hohe runde Stirn und der schiefe Mund waren ganz Paul, doch sein durch dringend eisiger Babyblick konnte nur von der Mutter sein. Elisabet versprach, dass Pauls Vater seine Gewährsleute bei der Regierung fragen wollte, ob man irgendetwas tun könne, um Einreisevisa für Andras, Klara und das Kind zu bekommen.
Andras schrieb an Shalhevet, und vier Wochen später traf ihre Antwort ein. Sie versprach, mit den Personen zu sprechen, die sie im Immigrationsamt kannte. Auch wenn sie nicht vorhersagen konnte, wie lange es dauern mochte und ob sie Erfolg haben würde, war sie der Meinung, es stehe günstig für Andras und Tibor. Wie Andras wissen müsse, sei das Hauptanliegen der Behörde im Moment, Juden aus von Deutschen besetzten Gebieten zu retten. Doch zukünftige Ärzte und Architekten seien von großem Wert für die jüdische Gemeinschaft in Palästina. Vielleicht könne sie sogar etwas für Andras’ Freund tun, den politischen Journalisten und Rekord-Sportler; auch er gehörte zu den außergewöhnlichen jungen Menschen, denen das Immigrationsamt gerne helfen wollte. Und wenn Andras und Tibor kämen, würden sie natürlich von ihren Familien begleitet. Wie schade, dass sie nicht vor dem Krieg alle gemeinsam ausgewandert seien! Rosen vermisse seine Pariser Freunde heftig. Ob Andras von Polaner oder Ben Yakov gehört habe? Rosen habe Dutzende von Erkundigungen angestellt, jedoch ergebnislos.
Andras saß am Rande des Hofbrunnens und las den Brief noch einmal durch. Er hatte weder von Polaner noch von Ben Yakov gehört, nicht seit den Schreiben, die er während seines ersten Munkaszolgálat-Einsatzes erhalten hatte. Wenn Ben Yakov immer noch bei seinen Eltern in Rouen war, würde er jetzt im besetzten Frankreich unter der Hakenkreuzflagge leben. Und Polaner, der so erpicht darauf gewesen war, für seine Wahlheimat zu kämpfen – wohin mochte man ihn nach seiner Entlassung aus dem französischen Militär geschickt haben? Wo mochte er nun sein? Welches Elend, welche Demütigungen hatte er ertragen müssen, seit Andras ihn zum letzten Mal gesehen hatte? Wie sollte Andras je erfahren, was aus ihm geworden war? Er zog die Hand durch das kalte Brunnenwasser, jetzt befreit vom Wintereis. Unter der Oberfläche bewegten sich die Fische wie geschmeidige Gespenster. Im letzten Herbst hatten Münzen im Brunnen gelegen, fünf und zehn Fillér, die auf den blauen Kacheln funkelten. Jemand musste sie herausgeholt haben, als das Eis taute. Jetzt würde niemand mehr Münzen in einen Brunnen werfen. Niemand hatte zehn Fillér für einen Wunsch übrig.
In der Dunkelheit der Baracken in den Waldkarpaten, Transsilvanien und Bánhida hatte Andras sich gezwungen, der Möglichkeit ins Auge zu sehen, Polaner könne tot sein, er könne erschlagen, verhungert oder erschossen sein; doch nie hatte er sich den Gedanken erlaubt, dass er eines Tages nicht wissen würde, was geschehen war – nicht sicher wissen, ob er suchen, hoffen oder trauern sollte. Ohne einen Toten konnte er nicht trauern. Das war gegen seine Art. Doch es war jetzt dreiundzwanzig Monate her, dass er etwas von Polaner gehört hatte – von Eli Polaner mit der sanften Stimme, irgendwo im explosiven dunklen Dickicht Europas verschollen. Andras wagte es nicht, den Gedanken noch einen Schritt um die Ecke zu denken, wo das Bild seines Bruders Mátyás lauerte, eine weiße Gestalt hinter dem Schleier eines Schneesturms. Mátyás, noch immer vermisst. Keine Nachricht von seiner Munkaszolgálat-Kompanie seit letztem November. Jetzt war April. Am Don ließ die anhaltende Kälte gerade ein wenig
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