Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
nach. Bald würde es möglich sein, die Toten des Winters zu begraben.
Andras hatte Klara mit dem Kind in der Wohnung zurückgelassen, der Rest der Post lag auf seinem Schreibtisch. Er wollte wieder hochgehen und schauen, ob er ihr helfen könnte; auf dem Brunnenrand zu sitzen und über all das nachzugrübeln, was er nicht wusste, machte ihm nur noch schlechtere Laune. Er stieg die Treppe empor und öffnete die Tür zur Wohnung in Erwartung, das Zwitschern des Säuglings zu hören. Doch ein Tuch des Schweigens hatte sich über die Zimmer gelegt. Der Kessel summte nicht mehr auf dem Herd. Das Badewasser des Kindes stand kalt in der kleinen Blechwanne und wartete auf das Hinzugießen des heißen Wassers. Das Badetuch lag gefaltet auf dem Küchentisch, daneben ein kleines Jäckchen und die Hose.
Andras hörte ein Geräusch seines Sohnes, einen kurzen Klagelaut aus zwei Tönen; er kam aus dem Wohnzimmer. Andras ging hinein und sah Klara mit dem Kind in den Armen auf dem Sofa sitzen. Ein geöffneter Brief lag vor ihr auf dem niedrigen Tisch. Sie schaute zu Andras auf.
»Was ist?«, fragte er. »Was ist passiert?«
»Du wirst wieder eingezogen«, sagte sie. »Du musst zurück zum Arbeitsdienst.«
Er untersuchte den Brief, ein verkürztes Rechteck dünnen weißen Papiers mit dem eingeprägten Emblem des KMOF . Er habe sich innerhalb von zwei Tagen beim Budapester Munkaszolgálat-Büro zu melden; er würde einem neuen Bataillon und einer neuen Kompanie zugeteilt werden und weitere sechs Monate Arbeitsdienst ableisten müssen.
»Das kann nicht sein«, sagte er. »Ich kann dich nicht wieder verlassen, nicht mit dem Kind.«
»Was sollen wir denn machen?«
»Ich habe noch die Visitenkarte von General Martón. Ich gehe zu seinem Büro. Vielleicht kann er uns helfen.«
Das Kind wand sich in Klaras Armen und gab wieder ein protestierendes Geräusch von sich.
»Sieh ihn dir an!«, sagte sie. »Nackt wie ein Neugeborenes. Ich habe sein Bad ganz vergessen. Ihm muss eiskalt sein.« Sie stand auf, drückte den Kleinen an sich und trug ihn in die Küche. Sie goss den Inhalt des Wasserkessels in die kleine Wanne und rührte das Wasser mit der Hand um.
»Morgen früh gehe ich direkt hin«, sagte Andras. »Mal sehen, was er tun kann.«
»Ja«, sagte Klara und ließ das Baby langsam in die Wanne gleiten. Sie stützte ihn mit ihrem Arm und massierte Seife in den zarten braunen Flaum auf seinem Kopf. »Und wenn er nicht helfen kann, schreibe ich meinem Anwalt in Paris. Vielleicht ist es Zeit, das Haus zu verkaufen.«
»Nein«, sagte Andras. »Das lasse ich nicht zu.«
»Und ich lasse nicht zu, dass du wieder zum Arbeitsdienst gehst«, sagte Klara. Sie schaute ihn nicht an, doch ihre Stimme war tief und entschlossen. »Du weißt, was da jetzt passiert. Die Männer werden rausgeschickt, um Minenfelder an der Front zu räumen. Sie lassen sie verhungern.«
»Ich habe es zwei Jahre überlebt. Ich überlebe auch noch sechs weitere Monate.«
»Früher war es anders.«
»Ich lasse nicht zu, dass du das Haus verkaufst.«
»Was kümmert mich das Haus?«, rief sie. Erschrocken schaute der Kleine sie an.
»Ich rede mit Martón«, sagte Andras und legte Klara eine Hand auf die Schulter.
»Und Shalhevet?«, fragte sie. »Was hat sie geschrieben?«
»Sie kennt Leute im Immigrationsministerium. Sie versucht, ein gutes Wort für uns einzulegen, damit uns Visa ausgestellt werden.«
Das Kind spritzte Wasser im hohen Bogen in Klaras Haar, und sie stieß ein trauriges Lachen aus. »Vielleicht sollten wir beten«, sagte sie und bedeckte die Augen mit einer Hand, als spreche sie das Schma Israel. Andras hätte gerne geglaubt, dass ihnen ein höheres Wesen voller Mitleid oder Entsetzen zusah, ein Wesen, das etwas ändern könnte, wenn es wollte. Er hätte gerne geglaubt, dass die Menschen nicht das letzte Wort hatten. Doch in der Mitte der Brust spürte er eine kalte Gewissheit, die ihm etwas anderes sagte. Gewiss, er glaubte an Gott, an den Gott seiner Väter, zu dem er in Konyár und Debrecen, in Paris und beim Arbeitsdienst gebetet hatte, aber dieser Gott, dieser Eine, war keiner, der auf die Weise eingriff, wie sie es im Moment gebraucht hätten. Er hatte das Weltall geschaffen und dessen Pforten für den Menschen geöffnet, und der Mensch war hineingegangen und hatte sich dort niedergelassen. Aber jetzt konnte Gott ebenso wenig hineintreten und das Leben neu ordnen, wie ein Architekt das Leben der Bewohner eines Hauses ändern konnte. Die
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