Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
würden sie von einem Korps speziell ausgebildeter Soldaten inspiziert. Wenn etwas fehlte, würden die Arbeitsdienstler dafür verantwortlich gemacht und bestraft. Erst wenn jeder Gegenstand gezählt war, würden die Züge verschlossen und zur Front geschickt.
Die Inspektoren kamen und verschwanden in Lastwagen. Soldaten fuhren diese Lastwagen bis in die Inspektionshalle und parkten sie neben den Zügen. Durch die breiten, rechteckigen Türen konnte Andras sehen, wie sich die Soldaten zwischen Zug und Lastern hin und her bewegten. Die Inspektoren machten sich nicht die Mühe zu verbergen, was vor sich ging; sie überwachten den Ablauf mit der Selbstsicherheit ihrer privilegierten Stellung in der Kommandokette. Mäntel, Decken, Kartoffeln, Bohnen, Waffen: Jeden Tag wanderte ein Zehntel der Ladung von den Güterwagen in die Laster. Wenn die Soldaten mit einem Waggon fertig waren, wurde er von den Inspektoren verschlossen, und der Zug rollte weiter, damit die Soldaten sich am nächsten zu schaffen machen konnten. Sie mussten schnell arbeiten, damit die Züge pünktlich abfuhren; der Bahnfahrplan nahm keine Rücksicht auf den Schwarzmarkt. Wenn die Soldaten ihr Werk verrichtet hatten, erklärten die Inspektoren die Ladung für vollständig und unterzeichneten die Papiere. Dann schickten sie den Zug an die Front. Die Lastwagen rollten fort, die abgeschöpften Waren gelangten auf den Schwarzmarkt, und die Inspektoren teilten den Erlös untereinander auf. Es war ein sauberes, einträgliches Geschäft. In ihrem Schuppen rauchten die Inspektoren teure Zigarren, verglichen ihre goldenen Taschenuhren und spielten Karten um Stapel von Pengő. Die Wachleute bekamen offenbar auch einen Anteil – denn anstatt sich mittags an der Essensausgabe anzustellen, tranken sie Bier und grillten strängeweise Debreciner Würstchen, rauchten Mirjam-Zigaretten und gaben den Arbeitsmännern Geld, wenn sie ihre neuen Stiefel polierten.
Andras wusste, was das Abschöpfen der Güter für die Soldaten und Arbeitsdienstler an der Front bedeutete. Irgendjemand bekam keine neuen Stiefel, obwohl seine alten auseinanderfielen. Die Arbeitsmänner traf es am härtesten: Sie waren gezwungen, Schuldscheine über Hunderte von Pengő zu unterschreiben, um sich die einfachsten Güter kaufen zu können. Wenn die Wachleute und Offiziere dann auf Heimaturlaub nach Hause fuhren, gingen sie mit den Schuldscheinen zu den Familien der Arbeitsdienstler und drohten, die Männer zu töten, falls die Frau oder Mutter das Geld nicht aufbrachte. Doch die Arbeitsmänner vom Verladebahnhof Szentendre schienen diese Praxis als Selbstverständlichkeit zu betrachten. Was hätte einer von ihnen daran ändern können? Tag für Tag beluden sie Züge, und die Soldaten entluden sie wieder.
Wie als Mahnung an ihre Machtlosigkeit mussten alle jüdischen Arbeiter nun Erkennungsarmbinden tragen, hässliche kanariengelbe Stoffschläuche, die über die Ärmel rutschten. Klara hatte sie für Andras nähen müssen, bevor er sich zum Dienst meldete. Selbst Juden, die schon vor langer Zeit zum Christentum konvertiert waren, mussten eine Armbinde tragen, allerdings eine weiße. Das Zeichen war zu jeder Zeit vorgeschrieben. Selbst wenn es besonders heiß für die Jahreszeit war – beispielsweise in der ersten Maiwoche, die sich wie Spätsommer anfühlte, als die Sonne vom Schotter des Bahnhofs zurückgeworfen wurde wie von einer Million Spiegel und die Luft so feucht war, dass die Arbeiter ihre schweißgetränkten Hemden auszogen –, selbst da mussten sie die Binde an den nackten Armen tragen. Als man Andras zum ersten Mal befahl, sie von seinem abgestreiften Hemd zu nehmen und über den Arm zu ziehen, hatte er den Wachmann ungläubig angesehen.
»Du bist ohne Hemd genauso ein Jude wie mit Hemd«, hatte der Mann gesagt und gewartet, bis Andras die Binde übergestreift hatte. Erst dann wandte er sich ab.
Der Kommandeur von Szentendre war ein Mann namens Varsádi, ein großer, dickbäuchiger Kerl aus der Tiefebene mit ausgeglichener Laune und einer Schwäche fürs Faulenzen. Varsádis größte Laster waren harmlos: seine Pfeife, sein Flachmann, seine Naschsucht. Er war ein Dauerraucher und fröhlicher Trinker. Er überließ die Disziplinfrage den Leuten, die weniger nachgiebig waren und sich nicht so schnell mit einem feinen Döschen ägyptischen Tabaks oder einem rauchigen Scotch beschwichtigen ließen. Varsádi selbst saß gerne in seinem schattigen Verwaltungsbüro, das auf einem
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