Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
flachen, künstlich angelegten Hügel über dem Fluss stand, und betrachtete die Arbeit des Verladebahnhofs vor sich, unterhielt Kommandeure, die von anderen Kompanien zu Besuch kamen, oder ließ es sich mit seinem Anteil der Waren gut gehen. Andras war durchaus dankbar, dass er es mit keinem Barna oder schon gar nicht mit einem Kálozi zu tun hatte, doch der Anblick von Varsádi mit den Stiefeln auf einer Holzkiste, die Arme zufrieden vor der Brust verschränkt, die Pfeife im Mund, davor eine Rauchschleife, war eine ganz eigene Form von Folter.
Am Ende ihrer ersten Woche begannen Andras und Mendel, über die Zeitung zu sprechen, die sie am Bahnhof Szentendre herausgeben könnten – Die Schiefe Bahn sollte sie heißen. »In Szentendre groß in Mode«, hatte Mendel eines Morgens im Bus aus dem Stegreif gedichtet und auf das Band um seinen Arm gedeutet, »ist momentan die Farbe Gelb, schon immer ein beliebter Frühlingston. Jetzt gilt sie als der letzte Schrei.« Andras lachte, und Mendel holte sein kleines Notizbuch hervor und schrieb drauflos. Das kühne Bekenntnis der jungen Modemacher von der 79/6 zur Sonnenblume , las er kurz darauf vor: Die Accessoires: Die Mutigen bevorzugen eine schicke Binde von zehn Zentimetern Breite aus ägyptischer Baumwolle, die sie über ihren Bizeps spannen und zu jedem Anlass tragen. Nächste Woche: Unser Modekorrespondent berichtet über den neusten Trend von der Ostfront: nackte Soldaten!
»Nicht schlecht«, sagte Andras.
»Der Bahnhof bietet sich als Zielscheibe an. Eigentlich wundere ich mich, dass es hier noch keine Zeitung gibt.«
»Ich nicht«, gab Andras zurück. »Die Männer laufen ja praktisch mit geschlossenen Augen herum.«
»Darum geht es ja gerade. Jeden Tag sehen sie vor sich, wie diese Lakaien den Männern an der Front das Brot stehlen, und trotzdem sagt keiner etwas!«
»Weil sich hier ja keiner zu Tode hungern muss.«
»Los, wir rütteln sie auf«, sagte Mendel. »Sie sollen sich mal ein bisschen über das aufregen, was hier abläuft. Zuerst bringen wir sie auf bewährte Weise zum Lachen. Später jubeln wir ihnen dann hier und da einen Artikel unter, der ihnen erklärt, wie das Leben in einem richtigen Lager aussieht. Dass es nicht genug zu essen gibt, dass Mäntel fehlen. Vielleicht können wir die Kameraden dazu bringen, dass sie etwas langsamer arbeiten. Wenn wir uns alle beim Verladen mehr Zeit lassen, haben die Soldaten weniger Zeit zum Abladen. Rechtzeitig abfahren müssen die Züge trotzdem, das ist ja klar.«
»Aber wie sollen wir das tun, ohne Kopf und Kragen zu riskieren?«
»Vielleicht müssen wir die Zeitung gar nicht vor Varsádi und den Wachleuten verstecken. Wenn der Zuckerguss nur süß genug ist, schmecken sie die bittere Pille gar nicht. Wir loben Szentendre über den grünen Klee, verglichen mit den Rattenlöchern, wo wir bisher gewesen sind, und beide Seiten hören nur das, was sie hören wollen.«
Andras war einverstanden, und legten sie los. Die schiefe Bahn sollte ein aufwendigeres Unternehmen werden als die beiden bisherigen Zeitungen; ihr Feierabend in Budapest ermöglichte ihnen den Zugang zu einer Schreibmaschine, einem Zeichentisch, verschiedenen Utensilien. Die Fahrt von und nach Szentendre bot täglich Zeit für zwei Redaktionssitzungen. Sie wollten langsam anfangen, die ersten Ausgaben lediglich mit Witzen füllen. Es würde wie immer erfundene Nachrichten geben, ebenso die Rubriken Sport, Mode und Wetter; dazu käme diesmal eine eigene Kulturkolumne mit Kritiken. Diese Woche debütierte das Ballett Szentendre mit »Güterwagen« , schrieb Mendel für die erste Ausgabe, ein faszinierendes Ensemblestück unter der Choreografie von Varsádi Varsádius, Budapests enfant terrible des Tanzes. Das Stilelement der Wiederholung wurde durch eine erfreuliche Bandbreite in Alter und Aussehen der Tänzer wettgemacht . Dazu gab es eine neue Seite mit dem Titel »Sie fragen, Hitler antwortet«. An ihrem zweiten Montag in Szentendre präsentierte Mendel Andras einen Entwurf:
LIEBER HERR HITLER : Bitte erklären Sie mir Ihren Plan für den Krieg an der Ostfront. Voller Zuneigung, EIN SOLDAT
LIEBER SOLDAT : Ich freue mich außerordentlich über Ihre Frage! Ich habe vor, einen gewaltigen Fleischwolf in der Nähe von Leningrad aufzustellen, ihn mit jungen Männern zu füllen und den Hebel so schnell zu drehen, wie ich kann. Mit gewaltiger Zuneigung, IHR A. HITLER
LIEBER HERR HITLER : Wie soll Ihrer Meinung nach die britische Flotte im
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