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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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und seine Laune zu heben, verfassten sie einen Artikel mit der Überschrift »Die Nachtigall von Szentendre«, eine Musikkritik, in der sie seine Fähigkeit lobten, jede Broadwaymelodie bis zur zweiunddreißigsten Note perfekt zu flöten. Die dritte Woche im Arbeitslager bescherte ihnen ein interessantes Thema: Der Verladebahnhof erhielt eine riesengroße geheimnisvolle Ladung Damenunterwäsche, und die Arbeiter hatten sie schon zur Hälfte in einen Zug geladen, ehe einer auf die Idee kam, sich zu fragen, was die Soldaten an der Front mit einhundertvierzig Dutzend verstärkten deutschen Büstenhaltern anfangen sollten. Die Inspektoren, halb schwindelig von der Aussicht auf die Schwarzmarktpreise dieser Miederwaren, stellten drei Einheiten Arbeitsmänner ab, um die deutschen Büstenhalter aus dem Zug in die Lastwagen zu laden; die Mittagspause wurde zu einer Modenschau der neuesten Stützwäsche aus dem Deutschen Reich. Zwangsarbeiter wie Wachen marschierten in hartschaligen BH s auf und posierten vor Andras, damit er sie zeichnen konnte. Obwohl der Rest des Nachmittags anstrengendere Arbeit bereit hielt – ein halbes Dutzend Wagenladungen mit Kleinmaterial traf ein und musste in die Züge verfrachtet werden –, spürte Andras kaum die Anspannung im Rücken und die Splitter der Transportkisten in seinen Händen. Er dachte über die Modezeichnungen nach, die er anfertigen könnte – Berliner Chic jetzt auch in Budapest! –, und überschlug im Kopf, wie lange es noch dauern mochte, bis Mendel und er die Zeitung stärker in eine bestimmte Richtung lenken konnten. Wie sich herausstellte, bot die Lieferung der folgenden Woche den idealen Aufhänger. Drei Tage lang enthielten die Versorgungslaster nichts anderes als Sanitätsmaterial, so als wollten sie den gewaltigen Blutfluss im Osten stillen. Während die Soldaten Kisten mit Morphium und Nahtmaterial in die Schwarzmarktwagen luden, musste Andras an Tibors Briefe von seiner letzten Stationierung denken – Ich habe natürlich weder Schienen noch Gips noch Antibiotika – und machte sich Gedanken über eine neue Rubrik. »Klagen von der Front« sollte sie heißen, eine Briefreihe von Munkaszolgálat-Angehörigen, die unterschiedlich stark von Krankheit, Hunger und Kälte betroffen waren. Auf ihre Klagen antwortete mahnend ein Vertreter des KMOF , sie sollten sich zusammenreißen und die Misere des Krieges ertragen; wofür hielten sich diese heulenden Memmen eigentlich? Sie sollten sich wie Männer benehmen, verdammt noch mal, und sich vor Augen führen, dass sie für Ungarn litten. Andras unterbreitete Mendel die Idee am Abend im Bus, und in der folgenden Woche führten sie die Serie in einem schmalen Kästchen ein, das sich über die gesamte Länge der letzten Seite erstreckte.
    Zum Ende des Monats hatte sich eine fast unmerkliche Veränderung unter den Arbeitern der 79/6 vollzogen. Einige schienen nun aufmerksamer zu verfolgen, was täglich in der Inspektionshalle vor sich ging. In kleinen Gruppen standen sie beisammen und beobachteten, wie die Soldaten herbeieilten, um die mit dem KMOF -Emblem gekennzeichneten Kisten mit Lebensmitteln oder Kleidung auszuladen. Sie verfolgten, wie die Waren vom Zug in die Lastwagen wanderten und die Lastwagen schließlich durch die Bahnhofstore davonfuhren. Andras und Mendel, die aufgrund ihrer Rolle als Herausgeber der Schiefen Bahn einen gewissen Einfluss besaßen, gingen auf diese Grüppchen zu und sprachen mit einigen Männern. Mit gesenkter Stimme wiesen sie darauf hin, wie wenig Zeit den Soldaten für das Umladen der Ware bliebe; kleine Veränderungen seitens der Arbeiter könnten die Zeit fürs Abschöpfen so verkürzen, dass ein bisschen mehr Verbandsmaterial, ein paar mehr Kisten mit Mänteln zu den Soldaten an die Front gelangten.
    Im Laufe der nächsten Woche ließ sich die 79/6 fast unbemerkt immer mehr Zeit dabei, die Ware in die Güterwagen zu laden. Die Veränderung ging langsam und subtil genug vonstatten, als dass die Vorarbeiter eine allgemeine Tendenz hätten ausmachen können. Doch Andras und Mendel bemerkten sie. Still triumphierend sahen sie zu und verglichen ihre Eindrücke bei geflüsterten Konferenzen im Bus. Alle Zeichen wiesen darauf hin, dass die kleine Änderung, die sie erhofft hatten, eingetreten war. Ihre Gespräche mit den Kameraden bestätigten das. Natürlich war nicht genau festzustellen, ob die langsamere Abwicklung einen Unterschied für die Männer an der Front machte, aber es war besser als

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