Die unsichtbare Handschrift
nichts. Vitus horchte eine Weile. Da war ein leises Scharren zu hören, sonst nichts. Langsam schob er den Riegel zur Seite. Kaspar wich einige Schritte zurück. Vitus öffnete und streckte die Lampe vor.
»Jemand da?«, rief er. Seine Stimme klang sicher und fest. Von der Gasse war ein schrilles Quieken zu hören. »Schweine«, stellte Vitus fest. »Da war wieder einmal jemand nicht in der Lage, sein Vieh im Pferch zu halten.« Er leuchtete mit der Lampe etwas tiefer und fand eine angebissene, an einer Seite schimmlige Scheibe Brot zu seinen Füßen. Das Borstentier musste sie verloren haben. Nun schwenkte er die Lampe, um nachzusehen, was den furchtbaren Lärm verursacht haben könnte. »Da haben wir es ja«, stellte er fest. »Die Leiter ist umgefallen. Ich wollte einen der Fensterläden oben wieder ganz machen, bin aber nicht fertig geworden. Also habe ich die Leiter stehen lassen. Normalerweise bekomme ich nämlich keinen Besuch von Schweinen«, scherzte er.
Esther fiel ein Stein vom Herzen. Sie lachte. Auch Kaspar hatte sich inzwischen herangetraut.
»Du bist vielleicht drollig«, maulte er. »Lässt eine Leiter am Haus stehen, so dass es für die finsteren Gestalten der Stadt nur recht bequem ist, dich im Schlaf in der Kammer zu überfallen.«
Vitus schloss die Tür und verriegelte sie. »Mir scheint, du hockst wahrlich mit den übelsten Geschichtenerzählern zusammen, Kaspar. Deshalb siehst du auch in jedem rechtschaffenen Mann einen Unhold und in jeder Begebenheit ein grausiges Geschehen.«
Sie wollten gerade zurück in die Stube gehen, da hörten sie, wie jemand die Stufen vor dem Haus hinabsprang und davonlief.
»Mann in de Tünn«, flüsterte Esther entsetzt.
»Mir scheint, das Schwein, das die Leiter umgestoßen hat, lief auf zwei Beinen«, sagte Vitus nachdenklich. »Jedenfalls ist der Kerl fort. Hätte er uns an den Kragen gewollt, hätte er seine Chance genutzt, als die Tür offen war. Vielleicht war es gar nicht der, der hinter euch her ist. Wahrscheinlich war es nur ein Herumtreiber, der versucht hat sich eins der Schweine zu greifen.«
Sie gingen zurück in die Stube und setzten sich. Esthers Herz klopfte. Sie würde in dieser Nacht keinen Schlaf finden, fürchtete sie.
»Da draußen war jemand«, sagte Kaspar, »und ihr macht euch über mich lustig, weil ich in jedem rechtschaffenen Mann einen Unhold sehe. Pah! Der schwarze Mann, der hinter Esther her war, ist jedenfalls kein rechtschaffener Mensch.«
Vitus war sehr ernst. »Nein, das glaube ich auch nicht.« Er leerte die Weinflasche zu gleichen Teilen in die Becher. »Wie geht es nun weiter?«
Esther berichtete, dass sie sich in der Frühe im Skriptorium einzufinden und das Pergament auf Reinhardts Pult zu legen habe.
»Das ist alles?«
»Das ist alles. Felding bezahlt einen Boten dafür, dass er das Schriftstück versiegelt und sich damit auf den Weg macht. Ich hoffe inständig, dass Felding mir, wenn alles gutgegangen ist, den Fetzen wiedergibt, auf dem ich zugegeben habe, schreiben zu können. Aber sicher ist das nicht.«
»Mach dir keine Sorgen, Esther. Du hast Reinhardt doch nicht auch erzählt, dass du des Schreibens mächtig bist, oder?«
»Nein.«
»Dann wissen es nur wir drei.«
»Und Felding«, ergänzte Kaspar.
»Wer wird ihm glauben, wenn wir ihn alle auslachen? Du wirst behaupten, deine Schwester könne zwar die beste Tinte der Stadt kochen, aber damit schreiben kann sie gewiss nicht. Ich werde sagen, dass es mir nie in den Sinn käme, ein Verlöbnis mit einer Frau einzugehen, die heimlich lesen und schreiben gelernt hat. Gott bewahre!« Er schlug die Augen nieder. »Das grenzt ja an Hexerei!«
»Stimmt«, pflichtete Kaspar begeistert bei. »Wie will er beweisen, dass du es warst, die diese Zeilen geschrieben hat? Am Ende war er es selbst, um dir eins auszuwischen. Immerhin hat er dir seit geraumer Zeit den Hof gemacht. Das habe ich oft genug gesehen.« Er strahlte.
Esther sah ihn fragend an.
»Richtig«, sagte Vitus. »Aus diesem Grund hatte ich ihn ja auch um eine Aussprache gebeten. Ich habe ihm erklärt, dass es nicht in Frage kommt, unsere Verlobung zu lösen. Er solle sich nur keine Hoffnung machen und meine Braut in Zukunft nicht mehr mit peinlichen Komplimenten und unschicklichen Angeboten behelligen.«
»Ihr meint …«
»Wenn wir uns einig sind, wollen wir doch mal sehen, wer auf seiner Seite steht.«
Esther war überglücklich. Bis zu diesem Moment hatte sie geglaubt, Felding könne von ihr
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