Die unsichtbare Handschrift
Riegel. Beinahe wäre ihr auch das Schloss zu Boden gefallen, aber sie konnte es gerade noch packen. Ein letzter rascher Blick über die Schulter zu Vitus’ Versteck, dann schlüpfte sie in die kleine Schreiberwerkstatt.
Düster war es und muffig. Wie gern hätte sie den Fensterladen geöffnet, um frische Luft und das Morgenlicht hereinzulassen, doch das war beileibe kein guter Einfall. Was hatte Felding ihr aufgetragen? Das Schriftstück auf Reinhardts Schreibpult legen, das war alles gewesen. Sie führte sich die Begegnung mit ihm noch einmal vor Augen. Ja, sie war sich ganz sicher. Je weniger sie wisse, desto besser, hatte er noch verkündet. Schließlich sei sie ein redseliges Weibsbild. Schön. Sie straffte sich und atmete tief durch. Sollte er haben, was er wollte. Wenn sie gleich wieder ging, wusste sie am wenigsten. Sie legte den Gegenstand, der ihr noch den Verstand rauben würde, neben einen alten Putzlumpen, den Reinhardt anscheinend achtlos auf seinem Pult liegen gelassen hatte. Das war sonst gar nicht seine Art, stellte sie fest, kümmerte sich aber nicht weiter darum. Sie hatte getan, was sie musste. Nun nichts wie raus hier!
Sie flog geradezu in seine Arme.
»Es ist geschafft. Ich habe es getan, Vitus. Es ist vorbei.« Sie bekam kaum Luft, so aufgeregt war sie. Am liebsten hätte sie getanzt, gesungen, jubiliert. »Jetzt muss er mir den Fetzen mit meinem Geständnis wiedergeben. Er kann nicht anders.« Ihr fiel ein, was Vitus und Kaspar zu diesem Thema gesagt hatten. »Das braucht er nicht einmal«, sprudelte sie weiter. »Er kann mir nichts mehr anhaben, nicht wahr? Es ist wahrlich vorüber!«
»Nein, er kann dir nichts mehr anhaben. Und nun beruhige dich bitte. Du hast es zwar geschafft, Esther, aber ganz vorbei ist es erst, wenn der Bote das gute Stück abgeholt hat.«
Natürlich, er hatte recht. Sie musste sich zusammenreißen, fiel es ihr auch noch so schwer.
»Schon besser.« Er lächelte und sah sehr erleichtert aus. »Wir wollen doch nicht, dass jemand aufmerksam auf uns wird.«
»Nein, das wollen wir nicht.« Allmählich ging ihr Atem wieder langsamer und gleichmäßiger. Auch konnte sie wieder klarer denken. »Und jetzt warten wir nur noch?«
»Das will ich hoffen. Handeln müssen wir nämlich nur dann, wenn etwas schiefläuft, und das wäre gar nicht gut.«
Die Glocke von St. Petri schlug zur siebten Stunde. Esther fuhr zusammen und sah hinüber zum Skriptorium, als müsste dort jetzt etwas geschehen. Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr, wandte den Kopf und entdeckte Reinhardt, der die Gasse entlangkam.
»Sieh nur! O nein, wir müssen ihn aufhalten.« Schon wollte sie losstürmen.
»Warte! Sieh doch!« Vitus hielt sie mit kräftigem Griff und deutete in die andere Richtung. Felding!
»Was sollen wir tun?«
»Nichts«, flüsterte er und zog sie weiter in den Winkel hinein. »Wir tun nichts als abzuwarten.«
Immer wieder versuchte sie ihren Kopf weiter vorzurecken, um sehen zu können, was dort vor sich ging. Jedes Mal zog Vitus sie sanft, aber bestimmt zurück. Was sie erspäht hatte, verwirrte sie. Es hatte den Anschein, als redeten Reinhardt und Felding recht vertraut miteinander. Sie hatten sich wie alte Bekannte begrüßt und dann leise ein paar Worte gewechselt. Reinhardt wirkte unruhig, soweit sie es einschätzen konnte. Er steckte doch wohl nicht mit diesem Kaufmann aus Köln unter einer Decke! Was sollte sie sonst davon halten? Das würde bedeuten, dass er sie wahrhaftig verraten hatte. Der Gedanke versetzte ihr einen Stich. Wieder reckte sie vorsichtig den Hals und konnte gerade noch sehen, wie die beiden gemeinsam das Skriptorium betraten.
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Lübeck, 18 . April 1226 – Josef Felding
D ie Glocke verkündete die siebte Stunde. Felding bog in die Depenau ein und entdeckte augenblicklich den Schreiber Reinhardt. Wunderbar, er liebte Zuverlässigkeit und hasste es, warten zu müssen.
»Ich grüße Euch, werter Reinhardt. Dann wollen wir wohl mal zur Tat schreiten, was?« Sein Vorhaben, das er sich so herrlich ausgedacht hatte, war im Begriff, an sein Ziel zu gelangen. Das verschaffte ihm beste Laune.
»Ich grüße Euch, Felding. Eben schlägt die Glocke zur siebten Stunde.«
Wie unsicher er war! Pah, was für ein jämmerlicher Zwerg, der eigens darauf hinweisen musste, pünktlich zur Stelle zu sein.
»Der Riegel ist geschlossen, das Vorhängeschloss ist jedoch fort.« Er senkte seine Stimme. »Das bedeutet, jemand ist schon da.«
»Oder
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