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Die unsichtbare Handschrift

Die unsichtbare Handschrift

Titel: Die unsichtbare Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Johannson
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aufgetragen, es anzuzünden, wenn die Glocke zur sechsten Stunde schlägt. Sobald es abgebrannt ist, soll ich mich auf den Weg zum Skriptorium machen, um das Pergament zu bringen.«
    »Warum hast du das nur nicht früher gesagt?«
    »Ich dachte, ich hätte.« Sie zerrte an dem Stoff ihres Gewands herum und fürchtete schon, er würde im nächsten Moment reißen. Endlich fand sie den Ausschnitt, durch den ihr Kopf wieder ins Freie kam.
    »Wie lange ist es her, dass die Glocke geschlagen hat?«, fragte sie voller Angst.
    »Nun ja, eine Weile.« Auch er war nicht mehr so ruhig wie noch eben gerade, als sie das Lager geteilt hatten. »Warum gehen wir nicht einfach jetzt schon?«, schlug er vor. »Besser zu früh dort sein als zu spät.«
    »Ein famoser Vorschlag. Auf der anderen Seite wird er sich doch etwas dabei gedacht haben, mir diese genaue Anweisung zu geben. Wozu das ganze Theater mit dem Licht, wenn ich einfach nur vor der siebten Stunde dort sein soll?«
    »Ich habe keinen Schimmer.« Er sah hinüber zu der Flamme, die fröhlich flackerte. »Es dauert seine Zeit, bis es verlöscht. Am besten, wir essen einen Brei oder einen Kanten Brot und machen uns dann auf den Weg. Was denkst du?«
    »Ich kann nichts essen.« Ihr war elend. Wie hatte sie nur verschlafen können? Als ob dieser Tag nicht ohnehin schon schlimm genug wäre. »Und überhaupt, wieso meinst du, wir gehen gemeinsam? Es war nur die Rede davon, dass ich zu erscheinen habe.«
    »Du glaubst doch nicht wahrhaftig, ich lasse dich allein zu diesem Halunken gehen. Kommt gar nicht in Frage.«
    Kaspar tauchte in der Tür auf. Sein rotes Haar stand ihm wie ein munteres Feuer zu allen Seiten vom Kopf ab. Er rieb sich müde die Augen.
    »Was macht ihr denn für einen abscheulichen Lärm?«
    »Heute ist der Tag, an dem Esther das Schriftstück in das Skriptorium bringen muss. Hast du das etwa vergessen?«
    »Nein, gewiss nicht. Ich wusste nicht, dass sie so früh aufbricht. Die Glocke hat noch nicht einmal zur siebten Stunde geschlagen.«
    »Zur achten kommt bereits der Bote«, erklärte sie ihm.
    »Was soll dann die Eile? Der Weg ist nicht weit.«
    »Frag nicht, Kaspar!« Sie strich ihm fahrig über den Schopf. »Geh lieber nach Hause und richte dir etwas für dein Mittagessen, das du mit zum Dom nehmen kannst. Und dann musst du dich sputen, wenn du Baumeister Gebhardt nicht verärgern willst.«
    »Wie soll ich für Gebhardt schreiben, wenn meine einzige Schwester sich in größte Gefahr begibt? Das kann ich nicht.«
    »Du musst sogar«, entgegnete sie eindringlich.
    »Keineswegs. Ich habe dir gesagt, dass wir das ab jetzt gemeinsam durchstehen. Und das werden wir. Ich lasse dich nicht im Stich.«
    Eben aus dem Bett gekommen, sah er aus wie ein großer, ungelenker Junge. Ihr ging das Herz auf bei diesem Anblick. Es war ein wunderbares Gefühl, einen solchen Bruder zu haben, der sein ganzes Leben für sie da sein würde. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Stirn.
    »Du hilfst mir am meisten, wenn du deiner Arbeit nachgehst wie an jedem Tag.«
    Bevor er widersprechen konnte, sagte Vitus: »Esther hat recht. Wer weiß, wo Felding seine Ohren überall hat. Wenn er hört, dass du heute nicht zum Schreiben erschienen bist, wird er nur misstrauisch. Auch die Ratsmänner und die Boten sollen sich sicher fühlen, wenn der Plan gelingen soll. Es ist wirklich besser, du lässt dich auf der Baustelle sehen.«
     
    Normalerweise fand Esther einen gewissen Gefallen daran, morgens in den Gassen Lübecks unterwegs zu sein. Die Häuser lehnten sich müde aneinander, die Menschen waren noch nicht so eilig auf den Beinen, wie es im Lauf des Tages der Fall sein würde. Und der Lärm war meist auch noch wohltuend gedämpft. Es schien ihr stets, als hätte das Leben noch nicht recht Fahrt aufgenommen, ein Zustand, den sie zu gerne beobachtete. Nur war an diesem Tag eben nichts so wie üblich. Als sie dem Marktplatz zustrebten, nahm sie nicht die angenehme Langsamkeit wahr. Im Gegenteil, sie störte sich daran, dass ein Laufbursche ihnen im Wege stand, als wären seine Füße soeben an Ort und Stelle festgewachsen. Und es widerte sie an, dass Nachttöpfe geleert wurden, eine Frau den Rock raffte, um ihr Morgengeschäft gleich vor dem Haus zu verrichten, und ein Mann sich in aller Gemütsruhe in der Nase bohrte, als hätte sich dort über Nacht etwas festgesetzt, das es zu beseitigen galt, und anschließend noch so dicht vor ihr ausspuckte, dass er um ein Haar

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