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Die unsichtbare Handschrift

Die unsichtbare Handschrift

Titel: Die unsichtbare Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Johannson
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ihre Schuhe getroffen hätte.
    Vitus schien das alles nicht zu bemerken. Er schritt zügig aus, so dass sie Mühe hatte, an seiner Seite zu bleiben. Als sie an St. Petri vorüberkamen, sandte sie ein rasches Stoßgebet zum Himmel. Wenn der Herrgott ihr den Betrug nur verzeihen und sie beschützen wollte. Das kleine Querhaus lag ruhig da im Schatten der umstehenden höheren Gebäude. Nichts rührte sich.
    »Was, wenn jemand drinnen ist? Reinhardt oder Otto?«
    »Otto kommt nicht mehr, das weißt du«, beruhigte Vitus sie. »Sein Weib hat mit Kaspar gesprochen, das hat er gestern gesagt.«
    »Das ist wahr. Was aber ist mit Reinhardt?«
    Er zog sie in einen Winkel zwischen zwei Häusern, von wo sie die Tür des Skriptoriums im Blick hatten, packte ihre Schultern mit beiden Händen und sah ihr in die Augen.
    »Hör zu. Wenn Reinhardt schon dort sein sollte, dann musst du ihm etwas vormachen.«
    »Aber was soll ich denn …?«
    Er legte ihr einen Finger auf die Lippen. »Hör mir zu, Esther. Du wirst ihm ein Märchen erzählen. Sag ihm, du wärst heute von einem lauten Poltern erwacht. Als du nachgesehen hast, war Kaspar nicht aufzufinden und in eurer Stube sei ein Stuhl umgestoßen und ein Regal fast vollständig leer geräumt gewesen.«
    »Aber davon ist doch nichts wahr!« Hörte dieses ständige Lügen denn nie auf?
    »Das ist unwichtig. Du musst ihn einfach dazu bekommen, das Skriptorium zu verlassen. Dränge ihn zur Tür. Im gleichen Augenblick musst du das Pergament auf sein Pult legen.«
    Sie tastete nach dem Schriftstück, vergewisserte sich zum x-ten Mal, dass sie es unter ihrem Umhang trug.
    »Und dann?«
    »Dann läufst du mit ihm nach Hause, bist unendlich überrascht, alles wieder in schönster Ordnung zu finden, und treibst ihn durch die halbe Stadt und zum Hafen hinunter, um nach Kaspar zu suchen.«
    »Reinhardt würde doch als Erstes zur Dombaustelle gehen. Und dann ist der Spuk vorbei.«
    »Dann sagst du ihm eben, Kaspar habe ausdrücklich betont, er müsse heute nicht zum Dom, weil Meister Gebhardt selbst nicht zugegen sei.«
    »Ach Vitus, es ist so schrecklich, Reinhardt derartig anzulügen. Wie soll ich das je wieder in Ordnung bringen?« Sie schmiegte sich an ihn und verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter. Deutlich spürte sie seinen kräftigen Körper, die Muskeln seiner Arme, seine Wärme. Dieses Mal war es etwas ganz anderes als gestern Nacht. Die Berührung war nicht aufregend, sie schenkte ihr eine große Geborgenheit, die sie jetzt so dringend brauchte. Es würde gut werden, alles würde gut werden, wenn Vitus nur bei ihr war.
    »Du musst dich damit abfinden, dass er es sein könnte, der dich an Felding verraten hat. Da geschieht es ihm ganz recht, ein wenig an der Nase herumgeführt zu werden, denkst du nicht?« Er schob sie ein Stück von sich und lächelte sie aufmunternd an. »Vielleicht ist er gar nicht da, und deine Sorge ist unbegründet. Geh jetzt hinein«, forderte er sie sanft auf. »Ich bin hier«, sagte er eindringlich. »Sollte irgendjemand das Skriptorium betreten wollen, bin ich zur Stelle und halte ihn auf.«
    »Gut, dann gehe ich jetzt.« Sie schluckte. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Er drückte sie noch einmal fest an sich, dann ließ er sie los. Es gab kein Zögern mehr.
     
    Esther überquerte die Gasse. Eine Hand lag auf dem Dokument, damit sie es so rasch wie möglich zücken und an den vereinbarten Platz legen konnte. Mit der anderen wollte sie den Riegel zur Seite schieben, doch da sah sie das Schloss, das noch niemand geöffnet und mit hineingenommen hatte. Sie tastete nach dem kleinen Schlüssel, den jeder Schreiber hatte. Ihre Finger zitterten. Sie bekam ihn zu fassen, warf einen Blick zu Vitus hinüber beziehungsweise zu der finsteren Ecke, in der sie ihn wusste. Da fiel ihr der Schlüssel zu Boden.
    »Herrje«, stieß sie leise aus. Sie blickte sich wieder um. Noch war die Gasse leer.
    Nur die Ruhe, ging es ihr durch den Kopf, es war ja nichts daran, dass sie zu dieser Stunde das Skriptorium aufschloss. Sollte jemand sie aus einem der Fenster beobachten, würde er gewiss nichts ungewöhnlich finden. Sie atmete schnell, ihr Brustkorb hob und senkte sich so sehr, dass sie meinte, jeder müsste es bemerken. Tapfer vermied sie es, an den Häusern hinaufzusehen, ob jemand am Fenster war. Sie steckte den Schlüssel in die runde Trommel des Vorhängeschlosses. Mit einem Klicken, das ihr heute lauter erschien als sonst, sprang es auf. Esther zog den Bügel aus dem

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