Die unsichtbare Handschrift
nicht einfach auf dem Schemel hockte. Er war tot. Angesichts der Leiche hinter ihm war Vitus’ förmliche Begrüßung geradezu grotesk. Esther stellte er nicht vor. So weit gingen die feinen Manieren nicht. Gut möglich, er wollte sie schützen und ihren Namen besser nicht preisgeben. »Mit wem haben wir die Ehre?«
»Wollt Ihr mich zum Narren halten? Ihr habt einen Mann getötet, seid im Begriff, ein Dokument zu stehlen, und meint mit mir eine gepflegte Unterhaltung führen zu können?«
»Wir haben ihn nicht umgebracht!«, rief Esther entsetzt. Es mutete an, als wäre sie eben aus ihrer Starre erwacht.
»Sie spricht die Wahrheit. Wir kennen diesen Mann gut und haben ihn vor wenigen Augenblicken gefunden. Er hatte sein Leben bereits ausgehaucht, als wir ihn hier entdeckten. Wir hätten ihm gern geholfen, das müsst Ihr uns glauben, aber es war zu spät.«
Felding hatte dem armen Tropf den Hals durchgeschnitten, so viel stand fest. Es war anzunehmen, dass er zu viel gewusst hatte.
»Ich muss Euch glauben? Ich wüsste nicht, warum. Weiter behauptet Ihr, Ihr kanntet ihn gut? Dann ist das wohl Eure Art zu trauern, indem Ihr auf seinem Pult herumschnüffelt.«
»Ich habe nicht …« Sie ließ das Pergament auf das Pult fallen, als hätte es mit einem Mal Zähne bekommen und nach ihr geschnappt.
»Wie würdet Ihr es nennen?«
»Wer seid Ihr, dass Ihr meint uns verhören zu können?«
Aha, dieser Vitus ging zum Gegenangriff über. Bitte, sollte er nur.
»Ich bin der Bote des Kaisers, gekommen, um ein Schriftstück von größter Wichtigkeit an mich zu nehmen und dem Domherrn Marold zu bringen.«
»Ihr seid früh hier.«
»Wusstet Ihr nicht, dass Pünktlichkeit die Höflichkeit der Könige ist? Nicht mehr lange, dann wird die Glocke die achte Stunde schlagen.«
Diese Esther war ein hübsches Geschöpf. Ganz langsam, Schritt um Schritt, hatte sie sich zu Vitus zurückgezogen und drängte sich jetzt an ihn. Sie war kein böser Mensch, das konnte er sehen. Sie erinnerte ihn an Ulla, eine fröhliche kleine Person, mit der er aufgewachsen, und die beste Diebin, die ihm je begegnet war. Sie konnte einem verraten, dass sie ihm gleich etwas aus der Tasche stibitzen würde, und es gelang ihr dennoch, den Raub durchzuführen, ohne dass der Bestohlene es merkte. Ulla hatte ein gutes Herz gehabt, die Not hatte sie gezwungen, anderen Menschen etwas wegzunehmen. Wie hätte sie sonst überleben sollen? Vielleicht war es mit dieser Esther dasselbe. Vielleicht war dieser kleine Betrug der einzige Weg zu ein bisschen Glück. Was mochte aus Ulla geworden sein, ging ihm durch den Kopf.
»Habt Ihr gehört, was ich sagte?«
Magnus erschrak. Seine Gedanken hatten sich auf Wanderschaft begeben, und er hatte ganz und gar nicht gehört, was dieser Vitus gesagt hatte. Das durfte ihm nicht noch einmal passieren.
»Ihr wollt mir weismachen, Ihr hättet dem da nicht die Kehle sauber durchtrennt«, stellte er fest.
»Ich sagte, dass wir mit Euch gerechnet haben«, erklärte Vitus ungeduldig. »Als wir Reinhardt gemeuchelt fanden, glaubten wir, irgendein finsterer Geselle hat die kostbare Urkunde, die für den Kaiser bestimmt ist, geraubt.«
»Aber sie ist noch da.«
»Ja«, sagte Esther leise und sah zu dem Pult hinüber.
Magnus griff nach dem zusammengerollten Bogen. Er holte tief Luft. Wessen Handschrift würde er zu sehen bekommen? Seine eigene war es jedenfalls nicht, das erkannte er auf einen Blick. Das konnte nur bedeuten, dass er Esthers Version vor sich hatte. Vermutlich hatte sie die von Felding schon verschwinden lassen und ihre bereitlegen wollen. Seine Abschrift, die es galt, nach Parma zu schaffen, musste noch unter dem Lumpen liegen.
»Das ist sie nicht!« Seine Stimme zerschnitt die atemlose Stille, die soeben noch geherrscht hatte.
Esther löste sich aus der schützenden Umarmung von Vitus und machte wieder einen zaghaften Schritt in Richtung des Pults.
»Ihr habt den bedauernswerten Schreiber getötet, um mir eine Fälschung unterzuschieben. Was hattet Ihr vor? Wolltet Ihr den Kaiser betrügen, die Stadt Lübeck ins Unheil stürzen?«
»Nein!«, riefen beide wie aus einem Mund.
»Woher wollt Ihr wissen, dass das dort nicht die richtige Abschrift ist?«, fragte Vitus in scharfem Ton.
Magnus freute sich wie ein Kind über diesen Moment. Er riss den Lumpen in die Höhe, und darunter kam ein weiteres Pergament zum Vorschein.
»Weil dieses die echte Urkunde ist«, verkündete er triumphierend. »Ich werde dafür
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