Die unsichtbare Handschrift
hatte einen unerschütterlichen Humor, das musste man ihr lassen.
»Ich verrate Euch nur so viel: Die Männer, mit denen ich hier bin, und ich haben einen Plan ausgeheckt, der dem Schauenburger sein Vorhaben, Stadtherr von Lübeck zu werden, auf alle Zeit verderben wird. Nun, was sagt Ihr?«
Es dauerte einige Atemzüge, bis sie antwortete. »Wenn Ihr in diesem Plan noch Aufgaben für einen einäugigen Krüppel habt, zögert nicht, mich um Hilfe zu bitten.«
Sie saßen um den Tisch in der Stube, der alte Müller, Norwid, Vitus, Kaspar, Magnus und sie, als wären sie alte Freunde. Norwid und sein Vater mussten ihren Vorrat ordentlich geplündert haben. Sie hatten ein wahres Festessen aufgetragen. Bevor sie alle zu speisen begonnen hatten, waren sie zu Bille gegangen und hatten ihr ihre Portion gebracht. Diese hatte ihre Besucher neugierig betrachtet. Als ihr gesundes Auge Magnus erfasste, schrie sie auf. Norwid war mit einem Satz an ihrer Seite.
»Was ist denn los? Was hast du? Du musst vor diesen Männern keine Angst haben.«
»Ich kenne den da!« Sie deutete auf Magnus. »Er ist im Bund mit dem Teufel!« Sie bebte, ihre Stimme war hasserfüllt. »Wie soll er wohl dem Schauenburger etwas verderben, wenn er doch sein Brot isst?«
»Er mag in seinen Diensten sein, aber er hasst ihn so wie Ihr und Euer Bruder, glaubt mir.« Esther war ebenfalls näher an ihr Lager getreten. »Ich habe nicht daran gedacht, dass Ihr ihn kennen könntet. Bitte verzeiht, der Schreck muss Euch in alle Glieder gefahren sein.«
»Ich erkenne Euch«, sagte Magnus leise. »Ihr seid das Geschöpf, das hinten im Wagen bei den Kleidern der Gräfin lag, als wir nach Lübeck kamen. Ihr seid seine Schwester?«
»Ja«, antwortete Norwid an ihrer Stelle. »Es ist meine Schwester, die man wie einen Sack Getreide oder ein Stück Vieh auf einen Wagen geschmissen und in die Stadt geschafft hat. Ein Wunder, dass sie das überlebt hat.«
»Das ist es.« Magnus nickte. »Ich war eingeschlafen, als wir in Lübeck ankamen. Ich hatte nicht bemerkt, dass wir noch eine Rast eingelegt hatten, um sie abzuladen. Als wir unser Ziel erreichten, fragte ich, was aus ihr geworden sei. Der Fuhrmann hat sich nicht klar ausgedrückt, aber ich nahm tatsächlich an, sie sei unterwegs gestorben. Gewundert hätte es mich nicht.« Er schüttelte kaum merklich den Kopf.
»Ihr werdet Eurem Herrn die traurige Botschaft bringen müssen, dass das nicht der Fall ist«, sagte Bille hart und atmete schwer.
»Du irrst dich, Bille, er ist kein böser Mann.« Norwid berichtete ihr mit wenigen Worten, was auch er erst kurz zuvor erfahren hatte. Auch Magnus redete auf sie ein, erzählte von sich und seinem Groll auf den Grafen. Es dauerte eine gute Weile, bis sie sich beruhigt hatte.
Die gesamte Gesellschaft hatte sich um ihr Lager gedrängt, was aufgrund der Enge nicht bequem und aufgrund des beißenden Geruchs nicht eben angenehm war. Doch hatte sich keiner etwas anmerken lassen, und Esther hatte beobachtet, wie sich der alte Müller kurz abgewendet und verstohlen eine Träne der Rührung fortgewischt hatte. So viel Leben hatte es wohl seit langem nicht in der kleinen, finsteren Kammer gegeben. Vitus, dem Esther auf dem letzten Stück des Wegs von Bille berichtet hatte, legte ihr sogar eine Kette aus kleinen Blumen, Zweigen und frischen grünen Blättern um, die er gepflückt und geflochten hatte, während Esther mit Norwid zunächst alleine gesprochen hatte.
»Ich danke Euch. Ich habe nie in meinem Leben schöneren Schmuck besessen«, sagte sie und strahlte ihn an. Wahrscheinlich hatte sie überhaupt noch nie Schmuck besessen, ging es Esther durch den Kopf, und sie warf Vitus einen dankbaren Blick zu.
Erst als Bille erschöpft war und bat, ihr nun endlich ihre Nachtruhe zu lassen, die sie, wie sie lächelnd sagte, brauchte, um so umwerfend hübsch auszusehen, waren sie in die Stube gegangen und hatten sich zu Tisch gesetzt.
Kaspar streckte die Beine von sich und klopfte sich auf seinen Bauch, der sich deutlich unter dem Leinenhemd abzeichnete.
»Es war köstlich!«, verkündete er und schleckte sich die Finger ab.
»Das war es in der Tat«, stimmte Magnus zu. »Wir haben Euch zu danken.«
»Ihr könnt es gutmachen«, erwiderte Norwid ernst. »Macht diesem Schauenburger das Leben nur so schwer, wie Ihr es vermögt, das ist uns mehr als genug Dank.«
»Was hat dieser Unmensch Eurer Schwester nur angetan? Sie ist mir in der Burg kaum begegnet. Als man sie auf den
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