Die unsichtbare Handschrift
übernahm sie diese Aufgabe bald für ihn. Sie liebte es, immer wieder neue Mischungen zu probieren, die immer wieder andere Farben hervorbrachten. Aus der Rinde der Schlehenzweige etwa ließ sich ein rötliches Braun herstellen, die besonders haltbare Eisen-Gallus-Tinte war bläulich bis tiefschwarz, aus Kreuzdorn ließen sich unterschiedliche Farben machen, je nachdem, welche weitere Substanz man hinzufügte. Sie zerschlug Lapislazuli und gebrannten Ziegel und rieb die kleinen Brocken unermüdlich zu Pulver, mit dem sie blaue oder rote Tinte anrühren konnte. Oder sie schabte Bleiweiß ab und verbrannte es zu Mennige, einem besonders hübschen Rot. Im Lauf der Zeit hatte Esther gelernt, die Tinten so zu mischen, dass sie gut von der Feder aufgenommen und aufgebracht werden konnten, dass sie kräftig waren, ohne das Pergament jedoch zu zerfressen. Sie war eine Meisterin geworden.
Am nächsten Morgen war Esther bei Sonnenaufgang auf den Beinen. Sie klopfte ihren Umhang noch einmal kräftig aus und bürstete ihn, damit auch die letzten Bröckchen getrockneten Schlamms aus der Trave fort waren. Kaspar schlief noch fest, als sie aus ihrer Kammer schlüpfte und das Holzhaus verließ, in dem sie unweit von St. Ägidien lebten. Sie machte sich auf den Weg zum Dom. Wenn Reinhardt an der Baustelle des Rathauses nach Aufträgen fragte, würde sie für ihren Bruder eben an der des Doms um Arbeit bitten.
Es herrschte ein nahezu unüberschaubares Gewimmel an der Baustelle. Steinmetze, Maurer, Zimmerleute, Schmiede und andere Handwerker eilten geschäftig hin und her, kletterten Leitern empor, die mit schmalen Brettern zu einem Gerüst verknüpft waren, auf dem sich die Männer behende bewegten wie Katzen auf einem Dachfirst. Holz ächzte und knirschte. Stein rieb und krachte.
»Aus dem Weg, Mädchen!«, rief ihr ein Steinmetz zu, der an Steinbeil und Schlageisen zu erkennen war. »Es ist gefährlich, hier herumzulungern.«
»Ich lungere nicht herum«, empörte sie sich. »Ich bin auf der Suche nach dem Meister, der für diese Baustelle verantwortlich ist.«
Er baute sich vor ihr auf und musterte sie von oben bis unten. Trotz der Kälte standen ihm Schweißperlen auf der Stirn. »Es gibt nicht den einen Baumeister«, erklärte er ihr gereizt. Sie kostete ihn zu viel Zeit. »Wir haben hier beinahe so viel, wie deine beiden Hände Finger haben. Welchen davon willst du sprechen?«
Auf diese Frage war Esther nicht gefasst. Sie schluckte, dann sagte sie: »Den besten.« Sie sah ihm gerade in die Augen.
Der Mann schnaufte und schüttelte den Kopf. Um sich nicht länger mit ihr abgeben zu müssen, ließ er sie wissen: »Ich will sehen, ob Meister Gebhardt bereits mit dem Frühstück fertig ist.«
Der Baumeister war ein feister Kerl mit einem Bart, der ihm aus der Nase zu wachsen schien.
»Ich höre, eine junge Magd will mich sprechen?« Er sah sie an. Es stand ihm ins Gesicht geschrieben, dass er sich keinen Grund vorzustellen vermochte, was eine junge Frau von ihm wollte. Junge Burschen, ja, die kamen gewiss beinahe täglich, um nach Arbeit zu fragen.
»Verzeiht, wenn ich Euch Eure kostbare Zeit stehle, aber Ihr dürft versichert sein, dass es nicht zu Eurem Nachteil ist«, begann Esther.
»Eine Magd, die sich auszudrücken versteht«, brummte der Mann, fischte einen kleinen Span aus einem Lederbeutel, den er am Gürtel trug, und begann damit die Zwischenräume seiner Zähne zu säubern.
»Ihr müsst sehr klug sein, dass Ihr einen so mächtigen Dom zu bauen vermögt, Meister Gebhardt.«
»Dessen kannst du sicher sein. Ich werde nicht wie die Baumeister vor mir scheitern. Viel zu lange stand die Arbeit hier still, nur weil niemand in der Lage war, aus dem Backstein die gewünschten Verzierungen zu formen.« Er schüttelte missbilligend den Kopf. »Hast du es nicht mit einem Hausteinbau zu tun, so musst du dich eben umstellen.«
Esther hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Sie wusste wohl, dass der Grundstein des Doms schon vor langer Zeit gelegt worden war, es dann jedoch eine lange Pause gegeben hatte, bevor die Bautätigkeit erneut aufgenommen wurde. Über die Gründe war ihr dagegen nichts bekannt.
»Es gibt hier eben keinen Naturstein, den wir behauen könnten. Hast du aber Backstein, kannst du ihn nicht wie Haustein behandeln«, erklärte er ihr. »Ein Baumeister, der kein Gefühl für sein Material hat, ist ein schlechter Baumeister. Das gilt auch für die Steinmetze, die du hier siehst, Mädchen. Sie sind alle
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