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Die unsichtbare Handschrift

Die unsichtbare Handschrift

Titel: Die unsichtbare Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Johannson
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beinahe erreicht, da fielen Wegelagerer über sie her. Sooft Esther sich die Geschehnisse von damals auch ausmalte, wollte es ihr doch nie in den Kopf, dass der Vater sich damals nicht einer Gruppe von Händlern oder anderen Reisenden angeschlossen hatte. Immerhin war es bekannt, dass am Wegesrand nicht wenige Gefahren lauerten. Ein Mann alleine mit zwei Kindern? Das war ein leichtes Ziel. Auch Kaspar hatte ihr darauf keine Antwort geben können. Stattdessen erzählte er ihr dann immer, dass die Schurken nicht lange gefackelt hätten. Sie schlugen den Vater nieder, und es war allein Kaspars raschem Handeln zu verdanken, dass Esther und er noch am Leben waren, denn er hatte die Schwester, erst wenige Monate alt, gepackt und sich mit ihr hinter dichtem Buschwerk verborgen. Die Diebe hatten kein Interesse an einem Jungen und einem Wickelkind. Sie nahmen sich Münzen und was ihnen von Wert schien und machten sich davon. Kaspar harrte lange in größter Hitze hinter dem Gesträuch aus. Vor Durst klebte ihm die Zunge am Gaumen, das wimmernde Bündel in seinen Armen hielt er ganz fest. Dann endlich wagte er sich hinaus und hockte sich zu seinem Vater, dessen Blut, das aus einer klaffenden Wunde am Hinterkopf in den Sand gesickert war, trocknete. Lange, so hatte er Esther erzählt, hatte er nichts anderes tun können, als den leblosen Körper anzustarren. Dann wagte er, ihn am Arm zu berühren. Zaghaft erst, dann fester und immer fester, bis er ihn schließlich schüttelte und anschrie und mit ganzer Kraft auf seinen Brustkorb schlug. Da der Vater jedoch keinen Muckser von sich gab, nur dalag, den leeren Blick starr in den Himmel gerichtet, erhob sich Kaspar, wischte sich mit dem Ärmel den Rotz von der Nase und die Tränen aus dem staubigen, von den Ästen des Strauchs zerkratzten Gesicht und machte sich mit Esther auf das letzte Stück des Wegs nach Lübeck. Er wusste nicht, wohin sonst. So lange hatten seine Eltern über nichts anderes gesprochen als darüber, wie gut es ihnen in der Stadt gehen würde, wie herrlich sie leben würden. Nun besaß er nichts mehr und wollte umso mehr, dass sich diese Aussicht wenigstens für ihn und Esther erfüllte.
    Nur war Lübeck leider nicht das Paradies. Obwohl Kaspar von seinem Vater gründlich ausgebildet worden war, lesen, schreiben und nicht weniger als vier Sprachen gelernt hatte, war es mit einer Anstellung nicht so einfach. Er hatte Glück, dass Otto und Reinhardt ihn zu sich nahmen, als Handlanger erst und Laufburschen, später als Gleichgestellten, der seinen eigenen Arbeitsplatz und dafür wie die anderen beiden Sorge zu tragen hatte, dass das Skriptorium stets ordentlich in Schuss war. Den Obolus nicht zu vergessen, den er dem Besitzer des Häuschens für die Nutzung zu zahlen hatte. Diesen Betrag durch drei statt wie zuvor durch zwei teilen zu können, mochte wohl den Ausschlag gegeben haben, dass Otto und Reinhardt Kaspar irgendwann mit sich auf eine Stufe gestellt hatten.
    Esther wälzte sich unter der viel zu dünnen Decke hin und her. Es war kaum vorstellbar, dass sie ihr Leben der Geistesgegenwart von Kaspar, ihrem geliebten einfältigen Bruder, der stets schwer von Begriff war, zu verdanken haben sollte. Immerhin musste er an jenem düsteren Tag in einem Augenblick das Geschehnis erfasst und gehandelt haben. Womöglich, überlegte sie, hatte das Erlebte ihn so tief erschüttert, dass er sich danach verändert hatte. Womöglich wollte er gar nicht mehr alles verstehen, was um ihn herum vor sich ging. Sei es, wie es mochte, sie würde ihm nie vergessen, dass er sie unversehrt nach Lübeck gebracht und liebevoll großgezogen hatte. Sie hatte eine schöne Kindheit gehabt, war Otto und Reinhardt zwischen den Füßen herumgekrabbelt, hatte sich irgendwann an den Pulten hochgezogen, um auf wackligen Kinderbeinchen zu stehen. Mehr als einmal war eines der Möbel dabei umgestürzt, und die kostbare Tinte war aus den Rinderhörnern geflossen und hatte sich auf dem Lehmboden verteilt wie ein kleiner Teich, in den sie zu gerne ihre Fingerchen getupft hatte. Als sie laufen konnte, half sie, wo es ihr nur möglich war. Sie sammelte im Herbst Galläpfel von den Eichenblättern, schnitt Rinde und sah den Schreibern dabei zu, wie sie daraus und aus Vitriol, Grünspan, Bleiweiß, Ei, aus dem Harz der Akazie oder Kirsche und verschiedenen Pigmenten ihre Tinten kochten. Jeder Schreiber stellte seine eigene Tinte her und verwendete auch nur diese. Weil Kaspar darin nicht geschickt war,

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