Die unsichtbare Handschrift
alleine sein. »Das heißt, ich wollte zum Schmied gehen, habe ihn aber nicht angetroffen«, stellte sie richtig und fand, dass diese Version der Wahrheit nahe genug kam. »Sei doch so gut und geh du noch einmal zu ihm.«
»Und was soll ich da?« Er sog die Oberlippe so weit ein, dass Esther schon befürchtete, auch seine Nase würde gleich zwischen seinen wulstigen Lippen verschwinden.
Sie ging zu dem Holzbrett, das an der Wand befestigt war und auf dem sich die Zutaten zum Tintenmischen befanden, die Kaspar gehörten. Das Fläschchen Vitriol war beinahe leer. Sie nahm es und schwenkte es vor seinem Gesicht.
»Was meinst du, wie viel Tinte ich mit diesem Tröpfchen machen kann?«
»Wofür willst du Tinte machen, wenn ich nichts zu schreiben habe?« Er war völlig arglos, machte sich zwar gewiss Gedanken über sein Auskommen und damit auch über das seiner Schwester, doch ein schlechtes Gewissen, dass er nicht selber für Arbeit sorgte, hatte er trotz Vitus’ Angriff am Vortag nicht.
»Vielleicht hast du schon morgen mehr Aufträge, als du erledigen kannst. Du wirst so manchen Federkiel spitzen müssen.« Sie rang sich ein Lächeln ab.
»Warum, wie meinst du das?«
»Frag nicht so viel, Kaspar, spute dich lieber. Ich kann dir heute noch nicht mehr verraten, aber ich bitte dich, zum Schmied zu gehen und ihm zu sagen, dass ich es war, die den Petter aus der Trave gefischt hat. Und wehe dem Bengel, wenn er das nicht auf der Stelle bestätigt.«
»Und dann, was mache ich dann?«
»Dann lässt du dir rostige Hufnägel geben. Das ist eine geringe Bezahlung für das Leben seines Sohns, denkst du nicht?« Er sah sie an, sein Mund stand offen. »Uns aber kommen rostige Nägel oder anderes rostiges Eisen gerade recht. So brauche ich nicht erst zu warten, bis sich der Rost angesetzt hat, sondern kann ihn gleich im sauren Wein lösen und damit herrliche neue Tinte machen.«
Kaspar rührte sich nicht vom Fleck.
»Na, mach schon. Worauf wartest du?«
»Ja, ist ja gut, ich gehe ja schon«, murrte er, blieb aber stehen.
»Kaspar!«
»Der Petter«, sagte er zögernd, »ist das der Sohn vom Löffel- oder vom Waffenschmied?«
Esther seufzte. »Es ist der Sohn vom Hufschmied. Deshalb hoffe ich ja, dass nicht wenige rostige Hufnägel bei ihm zu holen sind.«
Er strahlte sie an. »Ja, das ist wohl gut möglich. Dann gehe ich jetzt.«
»Du weißt, wo der Hufschmied wohnt?«
Seine Miene verfinsterte sich. »Ich bin ja nicht dumm!«
Sie seufzte erneut. »Nein, das bist du gewiss nicht.«
Kaum dass sie allein in der beengten Schreibstube war, kehrte die Stimme der blinden alten Frau in ihren Kopf zurück. Esther schauderte. Woher hatte die wissen können, dass sie des Lesens und Schreibens mächtig war? Kein Mädchen, das nicht eine Klosterschule besuchte oder aus adeligem Hause stammte und privaten Unterricht genoss, durfte mit einer geistigen Ausbildung rechnen. Das weibliche Geschlecht galt nicht viel, im Gegenteil, es herrschte landläufig die Meinung, nur aus schlechtem Samen würden Mädchen entstehen. Und während der Zeugung müssten wohl feuchte Südwinde geherrscht haben, die viel Regen mit sich geführt haben. Kein gesunder Mann würde sonst etwas anderes als einen Jungen zeugen. Hatte das Unglück eine Familie getroffen, so wie es Esthers Eltern geschehen war, musste man sich seinem Schicksal fügen, brachte dem überflüssigen Kind Nähen und Weben und den absoluten Gehorsam gegenüber Vater und Mutter bei. Darüber hinaus wachte man äußerst streng über die Keuschheit des Mädchens. Das alles hatte Kaspar nicht getan. Er hatte seiner Schwester zur Erbauung christliche Texte vorgelesen, damit sie besser einschlafen konnte. Weil er aber nicht so oft Lust hatte, ihr vorzulesen, wie sie begierig war, neue Geschichten zu hören, hatte er ihr eines Tages beigebracht, selber zu lesen.
Wer mochte das blinde Weib sein, und woher konnte es von Esthers Fähigkeiten wissen? Das wollte ihr beim besten Willen nicht in den Kopf. Sie würde mit dem letzten Tropfen Vitriol Tinte mischen. Das hatte sie noch immer auf andere Gedanken gebracht. Zunächst musste sie dafür die Galläpfel zerschlagen. Sie nahm einige aus der irdenen Schale, griff nach dem Stein mit der schönen runden Form, der so gut in der Hand lag, und hockte sich auf den Lehmboden. Mit Kraft, aber vor allem mit Gefühl ließ sie den Stein auf die harten Kugeln niedersausen. Eine nach der anderen schlug sie in viele kleine Stücke. Diese sammelte sie
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