Die unsichtbare Handschrift
ich.«
»Nein, das darf nicht jeder.«
»Ich komme wieder«, versprach er.
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Lübeck, 24 . April 2011 – Christa Bauer
C hrista Bauer eilte den Mühlendamm entlang zum Archiv der Stadt Lübeck. Der Eingang lag direkt neben dem altehrwürdigen Dom.
Wenn ihr nur von früher erzählen könntet, dachte sie beim Anblick der beiden hoch aufragenden Backsteintürme, die sich mit Hilfe einer Verstrebung aneinander festhielten.
Sie betrat das Gebäude, das sich das Archiv mit dem Museum für Natur und Umwelt teilte, und lief die Stufen zum Lesesaal hinauf, wo eine gerahmte Kopie des Reichsfreiheitsbriefes von 1226 aufbewahrt und interessiertem Publikum gern vorgeführt wurde.
»Guten Morgen«, rief sie leise ihrer Kollegin zu, die hinter dem kleinen Empfangstresen saß. Ihre Stimme zu senken war ihr im Lauf der Berufsjahre in Fleisch und Blut übergegangen. Der graue Filzbodenbelag dämpfte ihre Schritte, als sie um den runden alten Tisch herum lief, ein Schatz zwischen all den modernen Möbeln.
»Da bist du ja«, murmelte sie vor sich hin und griff nach dem Wechselrahmen, der die nur knapp fünfzig mal fünfzig Zentimeter große Pergamenturkunde barg. Zwar waren ihr Anblick und Inhalt sehr vertraut, doch sie kannte nicht jedes Wort, jede Abkürzung, die man im Mittelalter auf beinahe absurde Art und Weise geliebt hatte, auswendig. Sie musste also überprüfen, ob der Passus, von dem sie in Sankt Augustin in dem Vermächtnis gelesen hatte, wirklich in den Freiheitsbrief aufgenommen worden war. Das würde die Worte des Kölner Kaufmanns, um dessen Testament es sich handelte, bestätigen und diese Urkunde hier als frühmittelalterliche Fälschung oder besser als auf einer Fälschung basierend entlarven. Christa nahm sich nicht die Zeit, sich zu setzen. Sie hatte das aus der Unglücksstelle des eingestürzten Kölner Stadtarchivs geborgene Dokument so weit entschlüsseln können, dass sie nun wusste, wonach sie zu suchen hatte. Gab es einen Passus, der Lübecker Englandfahrer mit denen aus Köln gleichstellte? Sie war sich dessen nicht sicher. Natürlich wäre es ein Leichtes gewesen, diesen Umstand von Sankt Augustin aus zu recherchieren. Sie hätte im dortigen Archiv problemlos ein Buch finden können, das den gesamten Text des Reichsfreiheitsbriefes wiedergab, oder sie hätte eben ein solches Buch bestellen lassen können. Auch im Internet wäre der gesamte Inhalt ohne große Mühe zu finden gewesen. Nur musste sie ja sowieso zurück in ihre Heimatstadt und an ihre Arbeit. Und sie wollte herausfinden, ob über die Begünstigte des Testaments, immerhin eine Lübeckerin, etwas im Archiv war. Diese Aufgabe, das war ihr klar, würde sie vor deutlich größere Herausforderungen stellen als die Überprüfung des Pergaments, dessen Kopie sie jetzt in den Händen hielt. Also hatte sie beschlossen, sich selbst auf die Folter zu spannen und erst hier vor Ort nach dem verräterischen Satz zu suchen. Der Rahmen war so groß, dass er Platz für zwei Ausfertigungen der Urkunde gehabt hätte. Auf die lateinische Originalausgabe folgte die deutsche Übersetzung, die sie jetzt überflog. Sie hielt den Atem an und las leise: »Außerdem befreien wir die genannten Lübecker Bürger, wenn sie nach England fahren, von der sehr missbräuchlichen und belastenden Abgabe, die, wie es heißt, die Leute von Köln und Tiel und deren Genossen gegen sie ausgeheckt haben, und tilgen diesen Missbrauch gänzlich; vielmehr sollen sie nach Recht und Stand leben wie die Leute von Köln und Tiel und deren Genossen.« Mehr brauchte sie nicht zu lesen. Ihr fiel auf, dass genau dieser entscheidende Satz einen etwas anderen Farbton hatte als alle übrigen. Die Handschrift war dieselbe, kein Zweifel, nur sah es so aus, als hätte der Schreiber für diesen einen Satz eine andere Tinte verwendet. Sie wunderte sich, dass das noch niemandem aufgefallen war. Gut, es sprang nicht direkt ins Auge, aber immerhin, man konnte es erkennen. Verschiedene Tinten waren an sich nicht ungewöhnlich, aber nur einige Zeilen mit einer anderen, vielleicht neu angemischten Tinte zu schreiben, danach wieder zu der zu greifen, die davor zum Einsatz gekommen war, das war eben doch nicht üblich.
»Herzlich willkommen zurück, Frau Bauer«, begrüßte sie Dr. Florian Kayser, der Leiter des Archivs, und riss sie aus ihren Gedanken.
»Guten Tag, Chef«, begrüßte sie ihn. »Es ist wahr, dieser Kaufmann aus Köln hat die Wahrheit gesagt. Wir müssen eine Pressekonferenz
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