Die unsichtbare Handschrift
Holz malten einen gewagten Schwung in die Luft und endeten in jeweils einem Löwenkopf.
»Nehmt Platz, meine Tochter.« Bischof Bertold hatte sich kaum auf einem der Stühle niedergelassen, als ein Bediensteter, ein junger Bursche, etwas ungelenk Wein in zwei Zinnbecher goss. Danach trat der Jüngling wieder zurück auf seinen Platz gleich neben dem geöffneten Fenster, wo er auszuharren hatte, bis der Bischof und seine Besucherin etwas benötigten oder man ihn endlich gehen ließ.
»Ihr habt also die Reise aus Plön hierher unternommen, um Eure Amme zu finden.«
»Ja, ehrwürdiger Vater. Ich kenne sie, solange meine Erinnerung reicht. Sie hat mich auf ihrem Schoß geschaukelt, in ihren Armen gewiegt, mich gefüttert, weil die Brüste meiner Mutter kein Kind ernähren konnten. Sie war wie ein Teil von mir.« Sie verzichtete darauf, ihm zu erzählen, wie ihre Amme sie darüber hinaus, als sie gerade sechs Lenze zählte, zu unterrichten begonnen hatte. So verstand sie schon einiges von Dichtung und Philosophie, als sie ein Jahr später Privatunterricht erhielt. Der Lehrer, der in das Haus der Familie von der Lippe kam, vermochte ihr nichts beizubringen. Er stolzierte nur auf und ab, hörte sich am allerliebsten stundenlang reden und kümmerte sich weder darum, ob seine kleine Schülerin begriff, was er da von sich gab, noch scherte es ihn, wenn sie verhalten gähnte oder ihr gar die Augen zufielen, was nicht selten geschah. Erst wenn er aus dem Hause war, begann für Heilwig das Lernen und Verstehen. Ihre Amme Mechthild, nach der sie ihre Erstgeborene benannt hatte, verstand es aufs beste, ihr auch komplizierte Dinge so zu beschreiben, dass sie sich etwas darunter vorstellen konnte. Wissen durfte das natürlich niemand. Und noch weniger durften Vater und Mutter erfahren, dass Mechthild, deren Augen von Tag zu Tag trüber wurden, eine Gabe zu haben schien, die Heilwig faszinierte. Im gleichen Maße, wie ihr Augenlicht abnahm, gewann sie die Fähigkeit, Dinge zu sehen oder zu erahnen, die sonst kein Mensch zu sehen imstande war. Auch davon würde Heilwig dem Bischof besser nicht berichten.
»Was ist aus ihr geworden?«
»Ich dachte, das wüsstet Ihr. Sie lebt heute in Lübeck. Deshalb bin ich hier.« Jedenfalls unter anderem deshalb, fügte sie im Stillen hinzu.
»Und was ist damals geschehen, dass sie aus Eurem Leben gegangen ist? Hättet Ihr sie nicht als Kammerfrau bei Euch behalten können? Ihr habt selbst Kinder. Wäre sie ihnen nicht eine ebenso gute und liebevolle Amme gewesen, wie sie es Euch war?«
»Man hat sie fortgejagt«, erwiderte sie bitter. Unvermittelt tauchten die grausigen Bilder von damals wieder auf. Heilwig war beinahe zwanzig Jahre alt. Graf Adolf IV ., der um ihre Hand anhalten wollte, war zu Gast. Es war allerhöchste Zeit, und ihre Eltern waren froh, dass sie nun endlich unter die Haube gebracht werden konnte. Als er die milchigen Augen der alten Amme sah, fuhr ihm der Schreck in die Glieder.
Heilwig spürte den Blick des Bischofs auf sich gerichtet. »Sie war meine Kammerfrau, bis ich fast zwanzig Jahre alt war. Und ich hätte mir nichts sehnlicher gewünscht, als sie meiner Mechthild an die Seite zu stellen. Gewiss, sie war damals schon alt, ein kleines gebeugtes Weib mit weißem Haar, doch ihr Herz war noch immer jung und voller Liebe.«
»Wenn sie eine so gute und gottgefällige Frau war, warum hat man sie dann fortgejagt?«
Sie hatte nicht damit gerechnet, dass der Bischof so viel über ihre Amme und ihren Wunsch, diese wiederzusehen, wissen wollte.
»Meine Vermählung mit dem Grafen von Schauenburg und Holstein wurde beschlossen. Er war der Ansicht, für eine Amme sei ich bei weitem zu alt, zu einer Kammerfrau aber tauge die Gute nicht mehr.« Die ganze Wahrheit war, dass Mechthild in dem Augenblick, in dem Adolf verkündete, er habe eine junge, kräftige Kammerfrau für seine Zukünftige, die ihr noch viele Winter gute Dienste zu leisten imstande sei, Heilwigs Hand umklammerte und sie anflehte, sie nicht fortzuschicken.
»Ich bitte Euch sonst um kein Brautgeschenk«, hatte Heilwig zu Adolf gesagt. »Lasst mir nur dieses Weib, das ich mein ganzes Leben kenne. Mich von ihr zu trennen würde mir das Herz brechen.« Sie war überzeugt, dass ein Mann, der sie heiraten wollte, ihr diesen Wunsch nicht abschlagen konnte. Doch da irrte sie.
»Sollte es Euch nicht das Herz brechen, eine alte Frau, die schon nicht mehr aufrecht stehen kann, noch immer tüchtig in Diensten zu sehen?
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