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Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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so. Dem Frühling folgte der Sommer, darauf kam ein regnerischer Herbst und ein kurzer, aber kalter Winter. Nach ungefähr neun Monaten, als die Natur Valisia erneut mit milderen Temperaturen und bunten Farben verwöhnte, war der junge Hüter des Gleichgewichts einigermaßen ratlos. Zwar hatte er einige Gerüchte vernommen, das Schwarze Heer sei nach Osten gezogen, aber es fehlten weiterhin jegliche Berichte über Eroberungen oder Gemetzel, weshalb er diese Nachrichten mit Skepsis betrachtete. Lag dort, im dünn besiedelten Südosten, vielleicht die Verbotene Stadt, von der Aluuin gesprochen hatte? Wenn er wenigstens ungefähr wüsste, wo sich der von seinem Meister erwähnte große Wald befand!
    Styfics bizarre Schar von Sonderlingen war für Trevir schnell zu einer Art Familie geworden. In dieser nahm der Zauberkünstler höchstselbst die Rolle des Vaters ein. Als Kopf und Anführer der bunten Truppe mochte er dabei auch geschäftliche Interessen verfolgen, aber unverkennbar hatte Styfic an dem jungen Mann einen Narren gefressen. Bei aller Dankbarkeit war Trevir in einem Punkt jedoch fest geblieben: Er würde wann und wo immer es ihm gefiel wieder seiner eigenen Wege gehen.
    Allein die Befürchtung, den talentierten Nachwuchsillusionisten verlieren zu können, machte Styfic sehr zugänglich für Trevirs Ansinnen. Nun war das junge Oberhaupt des Dreierbunds ohnehin ausgesprochen selbstgenügsam. Es wollte lediglich unerkannt bleiben und ersuchte vereinzelt um eine Korrektur der Reiseroute. Solch bescheidenen Wünschen pflegte Styfic generös nachzugeben und was er beschloss, galt ebenso für die ganze Truppe, die aus knapp vierzig Personen bestand, Bären, Tauben, Schlangen, Frettchen und den Schwan nicht eingerechnet.
    Trevirs Nummer war schon bald zur Hauptattraktion geworden. Unter Styfics Anleitung hatte der junge Künstler seine anfängliche Improvisation zu einer verblüffenden Perfektion weiterentwickelt. Mit Trevirs Treffsicherheit klappte es nach einiger Übung nun viel besser. Sein vielleicht beeindruckendster Trick begann damit, dass aus dem Publikum ein Freiwilliger ausgewählt wurde, der einen Siegelring besaß – daran mangelte es praktisch nie. Sodann wurde vor aller Augen eine kleine Glasflasche mit einem Korken und flüssigem Wachs verschlossen. Bevor die heiße Masse erstarrte, drückte der Freiwillige sein Siegel hinein. Styfic stellte die leere Flasche nun auf ein Tischchen und deckte sie mit einem schwarzen Tuch zu. Sein junger Partner begleitete den Zuschauer derweil zum Platz zurück und schüttelte ihm dankend die Hand. Mit dieser Berührung versetzte Trevir den Siegelring in die Flasche. Die Verblüffung des Publikums war stets riesengroß, wenn Styfic den Schleier lüftete und ebenjener Ring, dessen Siegel auf dem Verschluss der Flasche prangte, in derselben zu sehen war.
    Die Gauklerkarriere des jüngsten Mitgliedes der Truppe hatte indes mit einer peinlichen Panne begonnen. Der Ring war nicht in der Flasche gelandet, sondern spurlos verschwunden. Nur durch seine ungewöhnliche Findigkeit hatte Trevir das Schmuckstück aus einem Pferdeapfel schälen und es seinem Besitzer zurückgeben können, ehe die Bürgerwehr anzurücken und das Ensemble wegen Diebstahls festzunehmen vermochte. Dem nie um eine elegante Ausrede verlegenen Styfic war es dann noch gelungen, dem Publikum das Missgeschick seines jungen Partners als komödiantische Einlage zu verkaufen.
    Trevir lächelte still in sich hinein, als er sich an diesem Nachmittag seines Patzers entsann. Die Sonne lachte am Himmel und er ertappte sich bei dem Wunsch, ewig so mit den Gauklern durch die Lande reisen zu können und nicht weiter als bis zur nächsten Vorstellung denken zu müssen. Er saß neben Styfic auf dem Kutschbock von dessen knallrot angestrichenem Wagen. Unvermittelt meldete sich die Stimme des Obergauklers und ließ Trevirs Träume von einem sorglosen Leben wie eine Seifenblase zerplatzen.
    »Morgen kommen wir durch Annwn.«
    Ein Ruck ging durch den Körper des jungen Hüters. »Annwn?«
    »Bist du schon einmal dort gewesen?«
    »Ja. Vor langer Zeit. Ich dachte, diesen Ort gäbe es nicht mehr.«
    »Du spielst auf Mologs Überfall an? Das ist… achtzehn oder mehr Jahre her. Was weißt du davon?«
    »Fast nichts«, erwiderte Trevir und verfiel in düsteres Schweigen.
    Annwn war nahezu wieder so groß wie vor dem Überfall des Schwarzen Heeres. Nur die Leute, die dort lebten, hatten andere Namen. Trevir wollte sich trotzdem auf

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