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Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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mühsam brachte er die Frage hervor: »Kennt Ihr mich?«
    »Ich wohne seit meiner Geburt in Annwn.«
    »Bedeutet das ja oder nein?«
    »Du besitzt nicht zufällig ein außergewöhnliches Muttermal auf deinem linken Schulterblatt, Junge?«
    Trevir starrte die Alte mit offenem Mund an.
    »Also ja«, sagte sie, auf einmal überraschend sanft, und deutete mit ihrer Krückenhand zur Hütte. »Komm mit in mein Haus, Trevir. Ich glaube, wir haben einiges zu besprechen.«
    Die plötzliche Zugänglichkeit der Kräuterfrau verwirrte Trevir fast noch mehr als ihr anfängliches Misstrauen. Benommen folgte er ihr in die Kate.
    In dem winzigen Haus standen ein Bett, eine Kleidertruhe, ein Tisch und ein Stuhl. Weiße Teller reihten sich in einem Wandregal aneinander. Ihre feine Machart bot einen merkwürdigen Kontrast zu der eher ärmlichen Einrichtung. Von der Decke hingen Unmengen von Sträußen aus getrockneten Kräutern und verbreiteten einen aromatischen Duft. Zwischen den grünen, braunen, roten und blauen Blättern baumelten zudem unterschiedlich große Töpfe. Ein vergleichsweise riesiger Kamin – anscheinend ein Überbleibsel des ursprünglichen Hauses – diente als Kochstelle und offenbar auch zum Brauen von Heiltränken; gerade blubberte ein Kessel über einer Flamme.
    Trevir hob einen kleinen Zweig auf, der bei der Feuerstelle zu Boden gefallen war, drehte ihn vor seiner Nase zwischen den Fingern und roch daran. »Ein Zypressengewächs«, sagte er. »Nadel-, nein, schuppenförmige Blätter, blaugrüne Beeren:
    Sadebaum! Habt Ihr eine Schwangere im Dorf, deren Kind etwas zu stürmisch ans Licht der Welt drängt?«
    Idana hob die Augenbrauen. »Du kennst dich mit Heilpflanzen aus?«
    Er lächelte. Obwohl ihm die vertraute Ansprache der Alten nicht entgangen war, wahrte er respektvoll die Form. »Mit Euch kann ich mich gewiss nicht messen. Ein Bader hatte mich einige Monate lang unter seine Fittiche genommen. Auf seine Weise war er ein sehr kluger Mann.«
    »Und du scheinst mir ein wacher Bursche geworden zu sein, Trevir. Der Sadebaum hat übrigens noch eine andere Wirkung: Er hilft dem starken Geschlecht seine Triebe im Zaum zu halten. Der Trunk, den ich da mische, ist für Sana. Sie macht sich Sorgen um ihren heißblütigen Gemahl, weil er ständig den hübschen Mädchen nachschaut und dabei seine Pflichten vernachlässigt.« Idana schmunzelte.
    »Als Ehemann?«
    »Als Schultheiß von Annwn.«
    »Ah! Ich habe ihn bereits kennen gelernt.«
    »Du wirst die Sache für dich behalten, Junge!«
    »Natürlich.«
    »Setz dich auf den Stuhl, Trevir.«
    Er gehorchte. Die Kräuterfrau ließ sich auf ihrem Bett nieder.
    »Woher kennt Ihr mich, Idana?«, wagte Trevir nun erneut zu fragen.
    In ihren Augen lag mit einem Mal großer Schmerz. »Du warst einmal mein Sohn – für eine Stunde.«
    Hätte Trevir nicht gesessen, wäre er jetzt vermutlich umgekippt. »Für…?«
    Idana lächelte traurig. »Nun, vielleicht waren es auch zwei Stunden.« Und dann erzählte sie von jenem Tag, als ihr Mann, der Böttcher von Annwn, mit einem Findelkind aus dem Feenwald heimgekehrt war. Wundersamerweise habe Beorn ihm denselben Namen gegeben wie später Trevirs Ziehvater vom Dreierbund. Das könne kein Zufall sein, da müsse einem doch schwindelig werden, rechtfertigte sich die nun überhaupt nicht mehr gebrechlich wirkende Alte. Hiernach berichtete sie von Mologs grausamem Überfall, vom Tod ihres geliebten Gatten und aller ihrer Freunde im Dorf sowie von ihrer Flucht. Es sei ihr Einfall gewesen, den kleinen Trevir in der Linde zu verstecken, gestand sie fast schüchtern, und nun empfinde sie es als das größte Glück, den Jungen wohlbehalten wiederzusehen. Zwei kleine Tränenbäche rannen ihr über die zerfurchten Wangen.
    Auch Trevir weinte. Er setzte sich neben die alte Frau und schloss sie in die Arme. So hielten sie einander lange fest und teilten das unbeschreibliche Gefühl, einen verloren geglaubten Teil von sich selbst wiedergefunden zu haben. »Seit Aluuin tot ist, dachte ich, allein zu sein«, schluchzte er schließlich. »Und nun habe ich plötzlich eine Mutter.«
    »Eigentlich bin ich es ja nie richtig gewesen«, widersprach Idana schwach, tätschelte aber gleichzeitig seinen Rücken wie den eines traurigen Kindes.
    »Hast du je erfahren, wer meine richtigen Eltern sind?«
    »Nein. Beorn war überzeugt, dass du ein Geschenk der Feen gewesen bist, weil er dich unmittelbar neben der Blutquelle gefunden hat. Ich ließ ihn in diesem

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