Die unsichtbare Pyramide
so blass?«
»Muss wohl doch die Fahrt gewesen sein.«
»Bist du dir ganz sicher? Man kann die Insel besuchen. Sollen wir rüberfahren?«
Wozu? Um einem Déjà-vu nachzujagen? Albern! Francisco schüttelte den Kopf und lief zum Wagen zurück. Seine Antwort wurde fast vom Wind weggeweht.
»Nein. Lass uns keine Zeit verlieren.«
Selbst Stonehenge war eine Enttäuschung. Als Francisco vor dem mächtigen Steinkreis stand, glaubte er zwar ein leichtes Schwindelgefühl zu verspüren, schob dieses jedoch auf eine Unterzuckerung seines Körpers – er hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen und schon den ganzen Vormittag über vor Nervosität kaum ruhig sitzen können. Sie waren erst am vergangenen Abend von Dublin aus mit dem Flugzeug nach London gereist und gleich am nächsten Morgen mit einem Mietwagen in Richtung Westen weitergefahren. Er wandte sich von den Sandsteinblöcken ab und lief zum Parkplatz zurück. Vicente hatte Mühe, ihn einzuholen.
Um seinen Bruder zu trösten, sagte er: »Ich habe mir von Stonehenge sowieso nicht allzu viel erhofft.«
Franciscos Hände waren in den Hosentaschen vergraben. »Etwa weils keine Pyramide ist?«
»Indirekt hat der Tempel hier sehr wohl etwas mit Pyramiden zu tun.«
»Das ist mir gar nicht aufgefallen.«
»Du erinnerst dich an den Komplex von Barnenez in der Bretagne, den wir im letzten Jahr besucht haben? Er ist genau auf diesen Ort hier ausgerichtet.«
»Was du nicht sagst!«
»Bist du sauer, Bruderherz?«
Francisco blieb stehen und bedachte Vicente mit einem finsteren Blick. »Was wir hier tun, führt doch zu nichts. Ich meine, es ist ja ganz nett, durch die Welt zu reisen und sich die Zeugnisse alter Kulturen anzusehen, aber das kann ja wohl kaum der Sinn des Lebens sein.«
»O, o! Jetzt wird’s philosophisch.«
»Mach dich nicht über mich lustig, Vicente. Ich meine es ernst: Wir sollten diese alberne Suche abbrechen.«
»Anscheinend hast du noch nicht begriffen, was wir hier tun, Francisco. Überleg doch mal: Die Pyramiden sind über den ganzen Erdball verstreut. Ihre Ähnlichkeit kann kein Zufall sein. Sie müssen einem gemeinsamen Zweck dienen. Selbst die moderne Quantenphysik legt nahe, dass es Paralleluniversen oder Spiegelwelten gibt.«
»Spiegelwelten! So ein Quatsch!«
»Es ist alles andere als Humbug, Brüderchen. Robert Foot, ein australischer Physiker, hat die Mathematik der so genannten ›Supersymmetrie‹ zu ebenjener ›Theorie der Spiegelwelten‹ ausgebaut, in der sich Geist in Materie und Materie in Geist verwandelt.«
»Mystischer Schwachsinn!« Francisco stapfte weiter.
Vicente setzte nach. »Muss ich dich etwa wieder an Doctor seraphicus erinnern, den großen Mystiker und Generalminister der Franziskaner?«
»Nein, musst du nicht. Aber ich sehe keinen Grund, warum es solche Spiegelwelten geben sollte.«
»Ganz einfach: um die Welt stabil zu machen«, erwiderte Vicente.
»Sehr witzig!«
»Das ist kein Scherz. Anfang unseres Jahrhunderts ist der britische Physiker Paul A. M. Dirac auf ein merkwürdiges Dilemma gestoßen. Du weißt vermutlich, dass Atome nicht die kleinsten Bausteine der Materie sind. Sie setzen sich aus etlichen Elementarteilchen zusammen.«
»Du meinst, Elektronen, Protonen und Neutronen?«
»Nun ja, inzwischen ist die Physik weiter und kennt mehrere hundert, weitaus winzigere Materiebausteine. Worauf ich aber hinauswill, ist Folgendes: Diese vielen kleinen Teilchen, die zusammen, sagen wir, einen Goldbarren bilden, sind in ständiger Bewegung. Oder wissenschaftlich ausgedrückt: Sie besitzen eine bestimmte Menge kinetischer Energie. Klar?«
»Hab schon mal davon gehört.«
»Gut. Unser Verstand sagt uns zudem, dass der Barren ein Gewicht hat, das der Summe des Gewichts seiner subatomaren Teilchen entspricht. Richtig?«
»Und eine Tüte Apfelsinen wiegt so viel wie das Papier und die Früchte zusammen. Ich glaube, ich werde Physiker.«
»Warte ab, bis du gehört hast, zu welchem Schluss unser Nobelpreisträger in Cambridge gelangt ist. Er behauptete, es müsse Teilchen mit negativer kinetischer Energie geben, mit anderen Worten, sie bewegen sich weniger als gar nicht und sind auch leichter als das Nichts.«
»Unmöglich!«
»Jetzt denkst du wie Dirac. Er hat sich zwei Jahre lang über das Paradoxon den Kopf zerbrochen und schließlich eine Lösung gefunden.«
»Spiegelwelten?«
»Antimaterie.«
»Was sonst!«
»Das hat nichts mehr mit Mystik zu tun, Francisco. Mittlerweile zweifelt kaum noch
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