Die unsichtbare Pyramide
ein bisschen weiter rum… Nein, zur anderen Seite!… Schon besser… Noch ein Stück…. Stop! Jetzt habe ich die Tafeln deutlich auf dem Schirm. Soll ich sie alle in Bilddateien umwandeln?«
»Nicht nötig«, antwortete Francisco selbstbewusst. Er hatte die Augen geschlossen. Fast stieß er mit der Nase gegen das steinerne Portal. »Es genügt völlig, wenn du die sechste von links – also die zweite von rechts – aufnimmst. Gehe so nah wie möglich ran. Die Buchstaben sind ziemlich verblichen.«
Vicente schüttelte ungläubig den Kopf, aber er richtete sich nach Franciscos verblüffend genauen Angaben. Sie veränderten ein paarmal die Beleuchtung und machten mehrere Aufnahmen.
»Ich hoffe, jetzt bist du zufrieden«, sagte Francisco schließlich. Sein Glanz nahm allmählich ab.
»Sehr!«, freute sich Vicente. »Am liebsten würde ich Xi gleich jetzt aufwecken, damit er uns den Text übersetzt.«
»Wozu die Eile? Wenn deine Berechnungen stimmen, dann haben’ wir noch zwanzig Tage bis zur großen Konjugation. Würdest du mir jetzt einen Gefallen tun, Vicente?«
»Jeden, Bruderherz.«
»Lass mich allein.«
Um Franciscos Laune stand es am Morgen nach dem Besuch der neunten Kammer nicht zum Besten. Trevir und Topra waren ihm nicht erschienen. Hatte er seine Chance verpasst? Vielleicht war die Gegenwart Vicentes am Fernbleiben der beiden Drillingsbrüder schuld gewesen.
Der Archäologe ahnte nicht, was seinen Bruder beschäftigte, und im Moment interessierte ihn nur die unvollendete Steintafel. Die ganze Nacht hatte er am Computer gesessen und mit Bildverarbeitungsprogrammen die Qualität der Fotos verbessert. Jetzt, noch vor dem Frühstück mit den Mönchen, präsentierte er Yuan Xi am Boden ihres engen Schlafgemachs das Ergebnis.
Der Professor war beeindruckt. Schon die ersten Spalten der Inschrift sprachen für die Zielsicherheit von Franciscos Spürsinn.
»Da ist wieder von dem Weltuntergang die Rede«, sagte der Chinese und deutete auf die erste Spalte am rechten Rand der Tafel. »Dort steht geschrieben: ›Wenn menschlicher Hochmut den Rhythmus der tausendmal gesegneten Harmonie stört, werden die Wohnstätten der Erdbewohner in Trümmern versinken und Dunkelheit breitet sich über das Leben aus.‹«
Francisco fühlte sich wie ausgedörrt. »Von welcher Harmonie spricht der Verfasser dieser Weissagung?«
Xi blickte von der Tafel auf. »Ich nehme an, die Harmonie der Naturkräfte.«
»Davon haben wir im Kloster der Gesetzesquelle ja schon genug gehört«, unterbrach Vicente die beiden ungeduldig. »Was steht noch da, Professor? Bitte übersetzen Sie weiter!«
Der Chinese schüttelte grinsend den Kopf. »Das hat Zeit bis nach dem Frühstück.«
Wie sich herausstellte, war das gemeinsame Morgenmahl der Mönche schon vorüber. Die Gäste bekamen jeder eine Schale Reis mit etwas Tofu und dazu so viel Wasser, wie sie trinken konnten. Außer Xi hatte ohnehin keiner Appetit.
Wu Mengfu wirkte nicht sonderlich überrascht, als er von Franciscos nächtlichem Ausflug zu den Höhlen erfuhr, wenngleich er noch einmal ernsthaft darum bat, die Heiligtümer des Wolkenheimklosters zu respektieren und sich an die Vereinbarungen zu halten. Anschließend war er aber genauso an der Übersetzung der alten Inschrift interessiert wie seine europäischen Besucher. Im großen Skriptorium, das jahrelang als Werkstatt zum Kopieren der Tafeln gedient hatte, machte er sich zusammen mit Xi an die Entzifferung der stark verblichenen und teilweise sogar ganz verschwundenen Tuschezeichen. Die Deutung einiger Passagen beschwor überraschend heftige Auseinandersetzungen zwischen den beiden Männern hervor. Doch allmählich entstand ein ins Englische übersetzter Text, der alle Erwartungen Vicentes und Franciscos übertraf. Vor allem der dem Weltuntergangsszenario folgende Teil hatte es in sich.
Das Schreckliche wird kommen. Vereiteln können wir es nicht. Nur uns schützen und um die Gnade der Götter beten. Imhotep vom Land der künstlichen Berge allein weiß um den Zauber, der die drei Säulen unseres Seins vor dem Zusammenbruch bewahren kann. Doch als er die Barke bestieg, nahm er das Geheimnis über den Ort der Entscheidung mit sich ins Totenreich. Nun kennt niemand mehr das Buch der Weisheiten noch den Ort, wo es verborgen liegt.
»Die Kammer des Wissens!«, hauchte Vicente unvermittelt, nachdem er mehrmals die handschriftliche Übertragung des Professors gelesen hatte. Die Luft war plötzlich wie elektrisch
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