Die unsichtbare Pyramide
natürliche Geburt, ganz ohne Apparate, begleitet. Allein wie du meinen Sohn in das große Leinentuch eingewickelt hast – er ist ein richtiges kleines Kunstwerk! Außerdem, wer kann schon wissen, ob er überhaupt noch leben würde, wenn er im Millionenjahrhaus zur Welt gekommen wäre.«
Wira nickte. Auch sie war sich der Gefährlichkeit ihrer Situation bewusst. Aber sie kannte Gisa schon lange und hatte sie nicht im Stich lassen wollen. »Die Nacht neigt sich dem Ende zu. Ich glaube, wir müssen bald aufbrechen. Hobnaj drängelt schon seit Stunden.«
»Der gute Hobnaj. Wenn ich ihn nicht hätte! In all den Jahren ist er mir…« Gisa stockte, weil sich unvermittelt alles um sie herum blau färbte. »Was passiert da, Wira?«
»Es kommt von dem Kind«, antwortete die Hebamme ergriffen. »Schon vorhin, als mir der Kleine seinen Kopf entgegenstreckte, sah ich dieses blaue Strahlen. Ich wollte dich damit nicht beunruhigen, fasste mir ein Herz und machte einfach weiter.«
Gisa drückte das Kinn auf die Brust, um ihren Sohn zu betrachten. »Aber warum sehe ich dann alles blau?«
»Weil sein Glanz jetzt euch beide erfasst hat. Könntest du euch mit meinen Augen sehen…« Wira rang die Hände vor der Brust und schüttelte vor Verzückung den Kopf. »Es ist einfach unglaublich! Ihr seid von einer blauen Aura umgeben, als wäret ihr Geschöpfe des Himmels.«
»Ich spüre eine angenehme Wärme, aber das ist auch schon alles.«
»Mein Lebtag habe ich nicht an die launischen Götter und die Magie der Priester von Baqat glauben mögen, aber vielleicht ist doch etwas dran an dem Gerede von heiligen Orten.«
»Du meinst, weil unter mir ein Toter liegt? Hör schon auf, Wira! Das ist doch alles abergläubisches Geschwätz.«
»Ja, bestimmt wird es das sein. Selbst wenn Imhotep tatsächlich in diesem Sarkophag ruht – er war ja immerhin Hohepriester des Re –, kann er uns nicht mehr nützen oder schaden als ein Häuflein Staub. Aber dieser Ort, die Kammer des Wissens meine ich – warum haben die Erbauer sie gerade hierhin gesetzt? Gibt es nicht überall auf der Welt Plätze, an denen die Menschen immer wieder ihre Heiligtümer errichten? Manchmal fügt jedes Zeitalter eine weitere imagisierte Schicht hinzu…«
»Imagi- was?«
Wira deutete auf die Hieroglyphen und Zeichnungen, die ringsum die Wände zierten; alle waren in gedeckten Erdtönen gehalten, in Harmonie mit den Elementen von Anx. »Imagisieren, Gisa. Menschen laden bestimmte Orte mit einer Bedeutung auf, die ihren religiösen Empfindungen entspringt: durch magische Bildzeichen, bestimmte Formen oder Bauwerke. Sieh dich um, dann verstehst du, was ich meine.«
Die junge Mutter ließ ihren Blick durch die Kammer schweifen und begann dann zu nicken. »Du hast Recht. Vielleicht sind diese Sprüche oder Formeln da nur der Ausdruck von Bewunderung und Staunen über Naturwunder, die man sich nicht erklären konnte.«
»Oder der Versuch, das Wissen von diesen Dingen für die Nachwelt zu erhalten.«
»Ich kenne niemanden, der diese Schriftzeichen heute noch lesen könnte.«
»Was keineswegs bedeuten muss, dass es nicht doch jemanden gibt. Vielleicht ist auch die Zeit dafür noch nicht reif…«
»Da kommt jemand! Bleibt in der Kammer und verhaltet euch still.« Hobnajs Warnung beendete jäh die Betrachtungen der beiden Frauen. Der Kopf des Nubiers verschwand ebenso schnell aus dem Eingang, wie er erschienen war.
Gisa und Wira wechselten besorgte Blicke. »Vielleicht will uns nur der Hohepriester zum Aufbruch drängen«, sagte die Hebamme ohne rechte Überzeugung.
Gisa lauschte. Noch konnte sie keine verdächtigen Geräusche hören. Auf sich und ihr Kind deutend, fragte sie: »Glaubst du, dieser… Glanz wird wieder verschwinden, Wira? Ich meine, es wäre ziemlich schwierig, aus Memphis zu fliehen, wenn man strahlt wie eine Leuchtreklame.«
Während die Hebamme ihrer Freundin auf die Beine half, trottete Hobnaj mit dem Plan des Hohepriesters in der einen und einer Taschenlampe in der anderen Hand durch das Gängelabyrinth auf den Ausgang zu. Wenn tatsächlich die Geheimpolizisten des Amjib oder gar Pharao Isfets gefürchtete Leibgardisten hier eingedrungen waren, dann wollte er, Hobnaj, den Ort der Begegnung wählen. Je weiter dieser von Gisa entfernt lag, desto besser. Adit hatte er am Einlass zur Kammer zurückgelassen, als »letzte Bastion gegen den Feind« – jedenfalls hatte Hobnaj das dem ängstlichen Koch gesagt.
Als Sklave am Hof des Pharaos
Weitere Kostenlose Bücher