Die unsichtbare Pyramide
Dröhnen der Triebwerke schien sich in seinem Kopf zu sammeln wie tausend in einem Goldfischglas gefangene Hornissen. »Das mit der Drei wird bei dir allmählich zur Manie. Du solltest einen Arzt aufsuchen.«
»Später vielleicht. Wenn Ägypten hinter uns liegt. Wusstest du, dass man dort nur drei Jahreszeiten kannte: Überschwemmung, Saat und Ernte?«
»Na und?«
»Die Drei spielte bei den alten Ägyptern eine große Rolle. Die Göttertriaden…«
»Du wiederholst dich.«
»Und die Bestattungsgebräuche der Pharaonen.«
»Was ist damit?«
»Die Wissenschaft geht heute davon aus, dass jeder Herrscher der alten Zeit genau drei Grabstellen besaß. Man könnte glauben, sie fürchteten sich davor, die Welt könne in drei Stücke zerrissen werden, und wollten sicherstellen, dass der Gottkönig seine Macht in jedem Teil bewahrte.«
»Die alten Ägypter haben ihre Körper mumifiziert, weil nur so ihr Fortbestehen im Jenseits garantiert wird. Aber es gab nur eine Mumie, nicht drei.«
»Aber sie glaubten auch, dass jeder Mensch aus drei an die Materie gebundenen Teilen besteht: chen – der Leib –, ren – der Name – und sehnt- der Schatten. Willst du das etwa abstreiten?«
Francisco ließ den Kopf gegen die Sitzlehne sinken und stöhnte. »Ich geb’s auf. Du bist ja besessen von dieser Idee.«
Vicente grinste von einem Ohrläppchen zum anderen. »Wart ab, bis du erst mit eigenen Augen die drei Pyramiden siehst. Dann änderst du vielleicht deine Meinung.«
Sie hatten beschlossen, nach dem anstrengenden Flug Peking-Paris nicht sofort nach Kairo weiterzureisen, sondern eine Nacht in der Metropole an der Seine zu verbringen. Diese Unterbrechung ging auf das Drängen Franciscos zurück, der sich keinesfalls so sicher wie sein Bruder war, ob er überhaupt noch nach Ägypten fliegen wollte. Schon kurz vor dem Aussteigen war ihr Streit erneut ausgebrochen. Bis sie den Einreiseschalter erreichten, hatten Franciscos Gefühle Siedetemperatur erreicht. Er wollte nur noch allein sein und mit dem nächsten Flug nach Spanien zurückkehren. Diese ganze idiotische Pyramidentour hing ihm zum Halse heraus. Die Kammer des Wissens konnte er auch alleine suchen, irgendwann einmal. Selbst wenn Claras Briefe im »Intimsphärentresor« seines Bruders – diesem albernen Alukoffer – tatsächlich für den Vater und nicht für den Onkel bestimmt waren, konnte er es nicht verwinden, um die Wahrheit betrogen worden zu sein. Genau so empfand er Vicentes Schweigen. Erbittert wechselte Francisco in eine andere Warteschlange. Er stellte sich hinter einen weißhaarigen schlaksigen Mann, rückte den Riemen seiner Handgepäcktasche auf der Schulter zurecht, zog unter der Achsel das aus dem Flugzeug mitgebrachte Time Magazine hervor und versenkte demonstrativ seinen Blick darin. Natürlich las er nicht. Es war nur eine Geste der Nichtbeachtung. Sollte Vicente doch bleiben, wo der Pfeffer wächst.
In den folgenden Minuten bekam der ehemalige Klosterschüler ein allseits bekanntes Naturgesetz zu spüren, dessen geheimnisvolle Funktionsweise die Ursachenforschung jedoch noch immer nicht ergründet hatte: Franciscos Warteschlange war, obwohl anfangs kürzer, die weitaus langsamere. Er brauchte ungefähr eine Minute, bis er den Fortgang dieser Entwicklung gedanklich durchgespielt hatte: Vicente würde zuerst die Passkontrolle passieren und danach den Zoll erreichen. Wenn alles gut ging, musste er sich hier, in Ermangelung der beruhigenden Wirkung des ehrlichen Gesichts seines jüngeren Bruders, minutenlang mit einer französischen Beamtin über die unbedenkliche Natur des Inhalts seines Aluminiumkoffers auseinander setzen und dabei seinen Vorsprung einbüßen. Er, Francisco, würde unbehelligt an ihm vorüber- und am Ende doch zuerst in die Empfangshalle des Flughafens einziehen. Und dann…
Schmunzelnd klappte Francisco seine Zeitschrift zu, griff in die Hosentasche und zog das Acht-Real-Stück hervor, das sein Bruder ihm vor einer Ewigkeit geschenkt hatte. Selbstzufrieden schnippte er die Silbermünze in die Luft. Es hörte sich an, als habe er einen Triangel zum Klingen gebracht. Er hoffte, dass Vicente sich dem Geräusch zuwenden und noch ein wenig mehr ärgern würde. Stattdessen reagierte ein ganz anderer auf das provozierende Spiel. Als Francisco die Münze zum dritten Mal hochschnippte und sie eben erst seine Hand verlassen hatte, wurde sie blitzschnell aus der Luft geschnappt.
Die unglaubliche Geschwindigkeit, mit der er um sein Silber
Weitere Kostenlose Bücher