Die unsichtbare Pyramide
ein feuchter Aspekt, der nicht vernachlässigt werden durfte. Aus all diesen Versatzstücken setzte Francisco allmählich ein Phantasiebild der Kammer des Wissens zusammen, das der Wirklichkeit, wie er hoffte, nahe genug kam, um seine besondere Gabe darauf ansprechen zu lassen.
»Na, klingelt’s schon?«, drängelte Vicente nach einer Weile.
Francisco schlug die Augen auf und stöhnte. »Wie soll ich mich konzentrieren, wenn du mich ständig fragst, ob bei mir etwas klingelt?«
»Da hat er Recht«, beschied Doktor Helwan.
»Ich habe erst ein Mal gefragt«, murrte Vicente.
»Ja, heute«, versetzte Francisco und schloss erneut die Augen. Er wollte sich seine Nervosität nicht anmerken lassen. Nach einer Weile sah er wieder die beiden Archäologen an und schüttelte den Kopf. »Hier ist nichts.«
Er begann nun im Uhrzeigersinn um die Große Pyramide herumzugehen, schritt an den drei kleinen Königinnenpyramiden vorbei, passierte bald an der Südflanke das Museum für die Totenbarke des Pharaos, folgte im Westen der schmalen Straße, hinter der sich der Friedhof mit den Beamtengräbern befand, und gelangte schließlich wieder zur Nordseite, deren Hauptattraktion besagter Ticketkiosk war.
Zuletzt blieb er vor dem Grab der Königinmutter Hetepheres stehen und seufzte leise: »Es ist, als würde ich ein Nebelhorn hören, es aber nicht orten können.«
»Das heißt, es klingelt?«, fragte Vicente aufgeregt.
»Sagen wir lieber, ich ahne etwas.«
»Vielleicht sollten wir weiter in Richtung Sphinx suchen. Einige Kenner der Materie vermuten die Kammer eher dort.«
»Ja, so wie Cayce, der ›schlafende Prophet‹.« Helwan grinste spöttisch. Normalerweise hätte er schon längst die Geduld verloren, aber Vicente hatte das Komitee für die Restaurierung der Sphinx – ein weiteres Gremium, dem der Ägypter angehörte – mit einer großzügigen Spende bedacht. So verbuchte er diesen Abend auf das Konto »Sonderführungen für betuchte Möchtegernarchäologen zum höheren Wohle der Wissenschaft« und erquickte sich nebenbei an Franciscos Unvermögen.
Selbiger sah gedankenvoll nach Süden, wo der steinerne Löwe mit dem Menschenkopf auf den Nil hinausblickte, und erklärte hierauf: »Nein, so weit ist die Sphinx nun auch nicht entfernt. Ich müsste die Kammer trotzdem sehen.«
»Es ist schwer, etwas zu finden, nach dem man gar nicht sucht.« Die Bemerkung stammte von Helwan.
»Wie meinen Sie das?«, fragte Vicente.
»Er will sagen, dass ich mir womöglich ganz falsche Vorstellungen von der Kammer mache«, sagte Francisco.
Der Ägypter nickte. »Wie soll der Hort des Wissens denn Ihrer Ansicht nach aussehen?«
Francisco beschrieb ihm sein Phantasiebild.
Helwan kratzte sich das stoppelige Kinn, ein langes Stück Asche fiel von seiner Zigarette herab. Offenbar fand er allmählich Gefallen an diesem Spiel. Nach einer Weile schüttelte er den Kopf. »Möglicherweise sollten wir die spitze Decke vergessen. Wenn die Halle der Aufzeichnungen in einer Pyramide liegt, dann hätten Sie Recht – da benutzte man Kraggewölbe, um die gewaltigen Massen abzustützen. Doch ich tippe eher auf eine in den Fels gehauene Kammer und in einer solchen könnte man sich mit rechten Winkeln begnügen. Außerdem gefällt mir diese Wasserburgidee nicht. Herodot neigte gelegentlich zu Übertreibungen.«
»Was ist mit der Grabinsel?«
»Die können wir immer noch wegnehmen.«
Francisco nickte und schloss erneut die Augen. Wieder sah er nur ein milchiges Einerlei. Er drehte sich langsam um die eigene Achse.
Und mit einem Mal lichtete sich der Nebel. Ein Ruck ging durch seinen Körper.
»Hat’s geklingelt?«, fragte Vicente sofort.
Francisco sah seinen Bruder mit glasigen Augen an. »Ja«, antwortete er leise und begann loszulaufen. Er suchte sich einen Weg zwischen den Königinnengräbern und dem sich dort anschließenden östlichen Friedhof. Bald kreuzten sie erneut den Fahrweg.
Je näher er der großen Sphinx kam, desto verhaltener wurden seine Schritte. Unter den Augen von Vicente und Helwan blieb er hier und da stehen, sah auf den Boden hinab, als könnten seine Augen tatsächlich den Fels durchdringen, und lief wieder weiter. Plötzlich verharrte er auf dem Fleck.
»Hier ist es.«
»Du meinst…?« Vicente hielt sich die Hand vor den Mund.
Helwan blickte geradewegs nach unten und stampfte ein paarmal mit dem Fuß auf. Ihm war anzusehen, wie wenig er von Franciscos Wahrnehmungen hielt.
Davon unbeeindruckt erklärte der Finder:
Weitere Kostenlose Bücher