Die unsichtbare Pyramide
»So werden Sie den Hohlraum nicht bemerken. Er liegt ungefähr dreißig Meter tief. Sie haben übrigens Recht gehabt, Doktor. Die Kammer besitzt tatsächlich kein Kraggewölbe. Nur rechte Winkel. Der Boden ist dreigeteilt: ein äußerer Wandelgang, ein Wasserbassin und in der Mitte eine Insel mit einem Sarkophag.«
Vicente sog hörbar die Luft ein.
»Das können Sie unmöglich wissen«, keuchte Helwan.
»Von Ihrem Siegelring haben Sie das Gleiche gedacht.«
»Wie kommen wir da hinein, Francisco?« Die Frage kam von seinem Bruder.
»Im Zweifelsfall mit einem Bohrer.«
»Dreißig Meter tief durch den Fels?« Helwan schüttelte entschieden den Kopf. »Das können Sie vergessen, Senor Serafin. Anfang der Siebziger sind die Amis der Sphinx auf diese Weise zu Leibe gerückt und hätten sie fast zerstört. Nach sieben Metern mussten sie aufgeben. Die Altertümerverwaltung reagiert seitdem sehr empfindlich, sobald die Wörter Bohrer oder Sprengstoff und Giseh in einem Atemzug genannt werden. Selbst wenn Sie sich mit einem Spatel durch das Erdreich kratzen wollten, dürfte es schwierig werden, dafür eine Genehmigung zu bekommen.«
Vicente sah seinen Kollegen mit versteinerter Miene an. »So viel Zeit haben wir nicht, Doktor. Außerdem sind Sie, wenn ich mich recht entsinne, der Leiter der Ausgrabungen in Giseh. Ich wäre bereit, meine Spende für die Erhaltung der Sphinx noch einmal aufzustocken.«
Helwan saugte nervös an seiner Zigarette. Er sah sich in einer Zwickmühle. Vicentes Dollars würde er schon gerne nehmen, aber auch sein Einfluss auf die zuständigen Regierungsstellen war begrenzt. »Ihnen bleibt nicht viel mehr als eine Woche, wenn Sie Ihre Wette gewinnen wollen, Senor Alvarez. Das ist unmöglich zu schaffen.«
»Wie wäre es, wenn wir die Existenz der Kammer anhand von seismischen Messungen nachweisen?«, schlug Vicente vor.
Helwan verzog das Gesicht. »Das Kulturministerium dürfte selbst das nicht überzeugen. Andere Hohlräume, die früher mit dieser Methode unter der Sphinx entdeckt wurden, entpuppten sich als natürlichen Ursprungs.«
Francisco blickte zur Cheopspyramide hinüber und murmelte: »In seinen Aufzeichnungen erwähnt Herodot ein weit verzweigtes Netz von Gängen und Kammern in unmittelbarer Nähe der Großen Pyramide. Er schreibt auch, die Ägypter hätten es in einer Felsformation angelegt, um dort das Grab für Cheops zu verstecken. Soweit mir bekannt ist, wurde die Mumie des Pharaos nie gefunden.«
»Das stimmt. Tutanchamon soll die Königskammer der Cheopspyramide als Erster aufgebrochen und den Sarkophag leer vorgefunden haben.«
»Ich kann nur sagen, dass die von Herodot beschriebene Kammer sich hier unter unseren Füßen befindet. Vielleicht hat er auch mit dem Labyrinth Recht gehabt.«
»Befragen Sie doch Ihr Gesicht.«
»Jetzt verwechseln Sie mich mit einem Hellseher, Doktor Helwan. Meine Gabe beruht auf physikalischen Gesetzen, die noch nicht in Gänze erforscht sein mögen. Mein Bruder würde Ihnen jetzt vermutlich irgendeine Geschichte von jungen Weißstörchen erzählen, die vor ihren älteren Artgenossen in Europa aufbrechen und zu ihrem Winterquartier nach Südafrika ziehen, obwohl sie niemals dort gewesen sind. Das hat auch nichts mit übersinnlicher Wahrnehmung zu tun.«
»D’accord, Senor Serafin. Dann will ich es anders formulieren: Wenn Sie mir eine genaue Skizze von dem Labyrinth – einschließlich des Zugangs! – erstellen und wir den Verlauf dieser Hohlräume anhand von seismischen Messungen untermauern können, dann sehe ich eine reelle Chance für Ihren Zeitplan.«
Francisco nickte. »Vielleicht kann ich Ihnen keinen Plan des gesamten Gangsystems liefern, aber den Weg von der Kammer bis zum Eingang müsste ich herausfinden können.«
»Dann tun Sie das.«
Vicente klatschte begeistert in die Hände. »Na, dann nichts wie los!«
Francisco stöhnte. »Ich bin ziemlich müde.«
»Einen Versuch noch, Bruderherz. Bitte!«
»Meinetwegen.« Natürlich war Francisco auf die legendäre Kammer genauso gespannt wie sein Bruder und der nach außen hin immer noch skeptische Helwan, aber es fiel ihm zunehmend schwerer, gegen die innere Ruhelosigkeit anzukämpfen und sich zu konzentrieren.
Erneut schloss er die Augen und stellte sich allerlei Tunnel vor. Aber dieses Gedankenbild reichte nicht, um den gesuchten Gang zum Vorschein zu bringen. Er musste schon konkreter werden. Vielleicht kam er weiter, wenn er in die korrekte Richtung dachte. Der Zugang musste
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