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Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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überkam, wenn er über die Motive seines Bruders nachdachte. Bildlich gesehen mochte Vicente über Leichen gehen, um seine verschrobenen Ideen zu realisieren, aber buchstäblich war er sicher nicht dazu fähig. Letztlich strebte er doch danach, der Menschheit einen Quell der Weisheit und des Wohlstandes zu erschließen. Vicente wollte die Welt einen. Falsch, er wollte drei Welten zusammenführen. Was war daran auszusetzen?
    Trotzdem hatte Francisco von Paris aus ein Telegramm an Clara geschickt. Sie wusste, dass er in diesem Hotel wohnte, aber in den letzten Tagen war von ihr noch keine Botschaft eingetroffen. Vicente konnte diesmal nichts abgefangen haben, denn Francisco hatte in der Rezeption ausdrücklich darauf bestanden, alle Mitteilungen persönlich ausgehändigt zu bekommen. Oder waren auch die Hotelangestellten von seinem Bruder bestochen worden?
    Francisco hörte ein Klopfen. Er blickte zum Bett, wo der Digitalwecker gerade auf einundzwanzig Uhr umsprang. Angeblich waren alle Orientalen unpünktlich. Der Vorsitzende des Obersten Rats für ägyptische Altertümer schien das Vorurteil widerlegen zu wollen. Francisco ging zur Tür und öffnete sie. Vicente stand auf dem Flur.
    »Doktor Helwan ist unten. Kommst du?«
    Kurz darauf fuhren die beiden Brüder mit dem Fahrstuhl in die Lobby des neuen Fünfsternehotels hinab, wo der oberste Ausgräber von Giseh mit einer Zigarette im Mundwinkel auf sie wartete. Sie hatten für Franciscos ersten Versuch extra diesen späten Termin vereinbart, um den Touristenscharen, Souvenirverkäufern und Kameltreibern aus dem Weg zu gehen, die tagsüber das Terrain rund um die jahrtausendealten Monumente bevölkerten. In den letzten Tagen hatte Francisco noch einmal seine Erinnerungen bezüglich der Kammer des Wissens aufgefrischt. Von dem antiken griechischen Historiker Herodot bis zu modernen Wunderheilern wie Edgar Cayce hatten alle möglichen Personen versucht ihren Mitmenschen die Vorstellung einer Bibliothek versunkenen Wissens nahe zu bringen. Francisco wollte sich sein eigenes Urteil bilden. Ihn interessierten keine Vorschläge, die ihm den Weg zu der Kammer weisen wollten – besagter Cayce wähnte, während er in Trance lag, den Eingang an der rechten Vorderpranke der Sphinx. Die Nachforschungen betrafen allein die Beschaffenheit dieses geheimen Raumes. Wie sah er aus? Eine ungefähre Vorstellung würde Francisco genügen, die Falten von Raum und Zeit im richtigen Verhältnis zu verschieben, um die Kammer aufzuspüren. Seine außergewöhnlichen Sinne konnten selbst massiven Fels durchdringen, wie das Erlebnis bei der Donnerklanghöhle eindrucksvoll bewiesen hatte.
    Das Forschertrio folgte einer Straße, die in weitem Linksbogen vom Hotel zur Nekropole führte und sich vor der Großen Pyramide verzweigte. Auf der Höhe eines Ticketkiosks führte Helwan seine spanischen Begleiter auf das eigentliche Gelände der Totenstadt. Selbst um diese Zeit begegnete er noch einer Unmenge von Leuten, die ihn wie ihren besten Freund begrüßten. Das Areal beherbergte weit mehr Monumente als die weltberühmte Sphinx mit der abgebrochenen Nase und die drei großen Pyramiden. Neben einigen kleineren Königinnenpyramiden gab es hier zahlreiche anders gestaltete Gräber. Auch eine Reihe von Tempeln konnten bestaunt werden. Francisco hatte sich die Nekropole nie so groß vorgestellt.
    Er begann seine Suche an der Ostseite der Cheopspyramide. Sowohl in als auch unter dem mehr als einhundertvierzig Meter hohen Bauwerk hatte man bereits etliche Kammern entdeckt. Es galt als gut erforscht, wenngleich noch immer Gerüchte von bisher unentdeckten Räumen durch die Medien spukten. Die »Halle der Aufzeichnungen« zunächst hier zu suchen war folglich nahe liegend.
    Francisco sammelte sich mit geschlossenen Augen an jener Stelle, wo man einst Pharao Cheops’ Totenschiffe geborgen hatte, insgesamt fünf wurden gefunden. Zunächst stellte er sich eine schlichte Kammer mit rechteckigem Grundriss, spitz zulaufender Decke und Hieroglyphen an den Wänden vor. In Sakkara war man in der Teti-Pyramide auf eine ähnliche Grabkammer gestoßen, deren Inschriften über die Himmelfahrt des Königs berichteten und magische Formeln über Erze enthielten, die dem toten Pharao neues Leben einhauchen sollten. Vermutlich würde ein Sarkophag in dem Raum somit nicht fehlen, entschied der Finder. Herodot hatte zudem von einem Inselgrab, ja sogar von einer ganzen unterirdischen Wasserburg zur Abwehr von Räubern berichtet,

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