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Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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nicht so laut sprechen zu müssen. »Wie oft muss ich dich daran noch erinnern? Jeder konnte dein Muttermal sehen.«
    »Das habe ich ganz vergessen!«, entfuhr es dem Jungen.
    »Na ja, ist vielleicht nicht verwunderlich. Auf der Tanhir bist du der Einzige, der es fast nie zu Gesicht bekommt. Aber trotzdem musst du in Zukunft mehr darauf Acht geben, hörst du?«
    Topra nickte ernst, obwohl ihm Jobax’ Ängstlichkeit wegen des Muttermals immer noch übertrieben erschien. Erneut versank er in tiefes Grübeln.
    Unterdessen ließen die beiden den Markt hinter sich und betraten eine schmale Gasse. Der Boden und auch viele der Häuser hier bestanden aus steinhartem Lehm. Die Wände mancher Gebäude erzählten aber auch von der Nachbarschaft des Meers. Korallen, Schnecken und Muscheln verschafften ihnen nicht nur Stabilität, sondern auch eine ganz eigene Schönheit. Topra fühlte sich jedes Mal, wenn er diese Gassen durchschritt, in die Märchenstadt Molluskandra versetzt, die sich in einer Luftblase tief unter dem Meer befand. Im Augenblick war dieser Eindruck aber nicht mehr als ein schwacher Widerschein früherer Empfindungen. Zu sehr beschäftigte ihn das leidige Muttermal. Natürlich kannte jeder Mensch auf der Welt das Emblem des Großen Hauses. Das Symbol des Pharaos ohne amtliche Genehmigung zu tragen oder sonst wie zu verwenden, galt als schwerer Gesetzesverstoß. Zuwiderhandlungen wurden manchmal sogar mit dem Tod bestraft. War das der Grund für Jobax’ vorgeschützte Schamhaftigkeit?
    »Vater?«
    »Ja, Topra?«
    »Wer sind meine richtigen Eltern?«
    Der Kapitän blieb wie vom Donner gerührt stehen. »Wie kommst du jetzt darauf?«
    »Du hast mir vor einigen Jahren schon gesagt, dass du nicht mein richtiger Vater bist, aber nicht, wie und warum ich auf die Tanhir gekommen bin. Heute werde ich vierzehn. Ich finde, ich habe ein Recht, zu erfahren, woher ich stamme.«
    »Aber… Bin ich dir nicht immer ein guter Vater gewesen?«
    »Doch. Wer immer mein Erzeuger sein mag, du bist mein Wunschvater; ich möchte keinen anderen haben.«
    »Fühlst du dich nicht mehr wohl bei mir auf dem Schiff?«
    »Ich möchte nirgendwo anders sein, Vater. Darum geht es auch gar nicht. Ich spüre aber, dass mit mir etwas nicht stimmt. Das Feuermal auf meiner Schulter – es macht dir Sorgen und ich möchte wissen, warum.«
    Der Kapitän holte tief Luft und nickte. »Womöglich hast du Recht. Ich wollte dich all die Jahre nur beschützen. Irgendwann musst du es ja doch erfahren. Aber nicht hier, Topra. Lass uns zuerst wieder in See stechen. Dann haben wir Zeit und ich werde dir alles erklären.«
    Am liebsten hätte Topra sofort eine offene Aussprache verlangt, aber er respektierte seinen Ziehvater viel zu sehr, als dass er sich über dessen Willen erhoben hätte. Er setzte sich wieder in Bewegung. Wenige Schritte später spürte er die Hand des Kapitäns auf seiner Schulter. Schweigend liefen sie nebeneinander her.
    Immer tiefer drangen sie in das Gewirr von Gassen und Sträßchen ein. Ab und zu machten sie einem schwer beladenen Esel Platz. Ansonsten begegneten ihnen nur Fußgänger. Hier, an der Peripherie von Baqats riesigem Reich, fuhren keine Wasserstoffmobile, ja nicht einmal Ochsenkarren. Lamus Wege waren einfach zu schmal dafür, die ganze Stadt schien in der Zeit stehen geblieben zu sein.
    Jobax nutzte den Marsch, um seinem Zögling etwas über Selbstbeherrschung und gesittete Umgangsformen beizubringen. Gewöhnlich kleidete der Kapitän seine Lektionen in das Gewand kleiner Geschichten. Der Junge wusste oft nicht einmal, ob eine Erzählung seines Ziehvaters nur der Unterhaltung oder darüber hinaus auch der Unterweisung diente. So war es auch mit jener uralten Überlieferung, die Topra von jeher am meisten gefesselt hatte. Sie stammte von den Tamehu, einem vorzeitlichen Seefahrervolk, dem auch Jobax’ Ahnen angehörten.
    Als wäre es nicht nur ein Märchen wie das von der Luftblasenstadt Molluskandra, sondern geheimnisvolle Wirklichkeit, hatte der Kapitän über einen weisen Mann berichtet, der seinem eigenen Hochmut anheim gefallen war. Er wollte die Kräfte des Universums in seiner Hand vereinen, so wie ein Krieger ein Bündel Pfeile mit seiner Faust umschließt. Doch der hochfahrende Plan scheiterte und die Welt brach in drei Teile entzwei. Seit jenen Tagen gab es die Unsichtbare Pyramide, einen Bund Auserwählter und ihrer Getreuen, die in den drei Welten leben, von denen Anx nur eine sei. Hin und wieder öffneten sich

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