Die unsichtbare Pyramide
Fenster und man könne in eine der anderen Welten hinüber sehen. Wie gerne hätte Topra selbst einmal durch ein solches Fenster geblickt!
Die auf ihrem Weg durch Lamus Gassen von Jobax erzählte Geschichte war weniger monumental. Sie handelte von einem Fischer, der allein auf einer einsamen Insel wohnte und mit einem Wal befreundet war. Regelmäßig trafen sich die beiden zum Gedankenaustausch. Der Mann saß dann auf einer Klippe über dem Bootssteg und das Tier räkelte sich unten im Wasser. Ein halbes Leben lang leisteten sich die beiden auf diese Weise Gesellschaft. Der Wal war jedoch nicht sehr pünktlich, was den Fischer immer häufiger zur Weißglut brachte. Ob das Tier nun gerade der Harpune eines Walfängers entkommen oder von einer geschlossenen Eisdecke zu einem Umweg gezwungen worden war, interessierte ihn nicht. Er beschimpfte seinen Freund von Mal zu Mal wüster. Eines Tages – der Fischer war schon seit dem Morgen besonders gereizt und der Wal ließ sich wieder einmal ausnehmend viel Zeit – platzte dem Mann der Kragen. Er wollte nichts hören von dem verzweifelten Kampf seines Gefährten mit einem Riesenkraken, sondern den unpünktlichen Fisch nur spüren lassen, was es hieß, einen Freund zu versetzen. So stemmte der Fischer einen riesigen Stein in die Höhe, um ihn dem Wal auf den Kopf zu werfen. Aber der Brocken war viel zu schwer für einen solchen Wurf. Er fiel senkrecht die Klippe hinab und zerstörte des Fischers einziges Boot. Da es auf der kleinen Insel kein Holz für eine Reparatur gab, war der jähzornige Mann auf einen Schlag von der Welt abgeschnitten. Und so verhungerte er. Den Wal hatte er nach seinem Zornausbruch nie wieder gesehen.
Topra stapfte eine Weile schweigend neben seinem Ziehvater her, sehr wohl ahnend, was die Moral von der Geschichte war. Er hatte jedoch keine Lust, seinem Ausrutscher weitere hinzuzufügen, und sagte stattdessen: »Wale sind doch Säugetiere und keine Fische.«
»Da siehst du mal«, erwiderte Jobax.
»Was soll ich sehen?«
»Der Fischer hat das Wesen seines Gefährten verkannt. Daran ist ihre Freundschaft auch zerbrochen. Er wollte sich – kannst du dir das vorstellen? – den Wal auf Menschenmaß zurechtstutzen, anstatt ihn so zu nehmen, wie er war: als kluges Säugetier, das in seinem harten Überlebenskampf trotzdem noch genügend Zeit aufbringt, um einem Mann über die Einsamkeit hinwegzuhelfen. Der Jähzorn war dann das Henkersbeil, mit dem der Fischer das Band ihrer Freundschaft und sein eigenes Leben zerstörte.«
»Willst du mir damit sagen, ich sei zu aufbrausend gewesen, Vater?«
»Ich möchte dich nur davor bewahren, eines Tages vor lauter Hitzköpfigkeit einen Stein in dein eigenes Boot zu werfen. Ein gutes Mittel dagegen ist der Respekt vor dem Mitmenschen: Was du nicht willst, das dir man tu, das füg auch keinem andern zu.«
»Nicht mal einem Langhemd?«
»Du sagst es. Wenn schon ein Wal als Mitgeschöpf deine Achtung verdient, wie viel mehr dann ein Mensch? Egal wie er aussieht oder woher er kommt.« Jobax deutete zu einer Quergasse. »Das Kontor ist übrigens nicht mehr weit. Da vorne müssen wir rechts abbiegen und kurz darauf noch einmal links.«
Sie nahmen den Abzweig, bis zum nächsten waren es nur ungefähr einhundert Schritte. Zwischen den ersten Häusern hätte der Junge die braunen Lehmwände zu beiden Seiten mit ausgestreckten Armen berühren können, aber nach etwa halber Strecke wurde die Gasse breiter. Topra bewunderte ein großes, zweiflügliges, reich verziertes Holztor, das wohl oft von Reitern auf ihren Rössern durchquert wurde – der Boden davor war von zahlreichen Hufspuren zu feinem Staub zermahlen und es lagen einige frische Pferdeäpfel herum. Das Portal besaß zudem einen kleineren Durchlass, an dem Topra einen schweren messingfarbenen Türklopfer in Gestalt eines Nashornkopfes bemerkte. Auch die prachtvoll geschnitzten Fensterläden des Hauses zeugten vom Wohlstand seiner Bewohner. Während der Junge noch darüber nachsann, wer in diesem kleinen Palast wohnen mochte, bemerkte er aus den Augenwinkeln eine rasche Bewegung. Sein Kopf fuhr herum.
Zwei finstere Gestalten waren aus einer Pforte im Nachbarhaus getreten und pflanzten sich mitten in den Weg. Zu seinem Entsetzen bemerkte Topra die großen Runddolche in ihren Händen. Er und der Kapitän dagegen waren völlig unbewaffnet.
»Das hat nichts Gutes zu bedeuten. Lass uns hier verschwinden!«, raunte ihm Jobax zu und drehte sich um.
Topra folgte
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