Die unsichtbare Pyramide
müsste doch wissen, wer ich wirklich bin. Oder war er etwa nicht der als Mönch Verkleidete, der mich auf die Tanhir brachte?«
Jobax drehte sich auf dem schmalen Balken um. Ein Ausdruck des Schmerzes lag auf seinem Gesicht. »Doch. Jedenfalls vermute ich es. Leider konnte ich den Nubier, den wir damals an Deck bemerkt haben, nie danach fragen. Jemand hat auf ihn geschossen. Der Getroffene fiel ins Hafenbecken und wurde nie mehr gesehen.«
»Dann könnte er noch leben!«
Der Kapitän schüttelte langsam den Kopf. »Ich habe damals all meine Beziehungen spielen lassen und du weißt, was das bedeutet. Hobnaj von Meroe war eine Legende. Sein Name stand für Mut und Kraft, für Geschicklichkeit und Scharfsinn. Aber alles, was man mir über ihn berichtete, stammte aus der Vergangenheit. Die Spur des Nubiers verliert sich an jenem Tag, als du bei uns aufgetaucht bist.«
Topras Augen verfolgten eine Flasche, die zwischen der Kaimauer und dem Schiffsrumpf in den leichten Wellen auf und ab tanzte. Seine Gedanken dümpelten indes ganz woanders. Unvermittelt hob er den Kopf und verkündete mit fester Stimme: »Ich liebe und achte dich, Vater. Nie wird es anders sein. Aber trotzdem muss ich mich auf den Weg machen und nach Hobnaj von Meroe suchen. Sollte ich ihn nicht finden, dann wird mir ein anderer sagen müssen, ob Gisa meine Mutter ist. Stell dir vor, sie lebte noch und ich würde nicht nach ihr suchen!«
6
Elysische Gesänge
Erde
Francisco machte sich keine Illusionen – Mädchen waren auch nur Menschen. Aber was für welche! Bruder Pedro hatte ihn gelehrt, alle Geschöpfe seien Spiegelbilder Gottes; man müsse sie nur durchsichtig werden lassen, um das Angesicht des Herrn zu erblicken. Wenn das stimmte, und daran hegte der Junge keine Zweifel, dann mussten Mädchen der Widerschein von Gottes Augen sein. Sie waren wunderbar!
Da Francisco nicht in klösterlicher Abgeschlossenheit lebte, durfte er seine Ordensbrüder ins benachbarte Huelva begleiten, wenn irgendwelche Erledigungen anstanden. Zweimal war er sogar schon in Sevilla gewesen, wo sich Bruder Pedro in seiner Eigenschaft als Guardian von La Rábida mit dem Provinzialminister des Ordens getroffen hatte. Mädchen, diese wunderbaren Wesen, die sich so graziös bewegten, deren Haar so herrlich im Wind wallte, ja, die der Schöpfer aus Adams Rippe so vollkommen modelliert hatte, gab es in der bunten Welt draußen zuhauf und eines war bezaubernder als das andere. Die weit verbreitete Annahme, derart himmlische Anblicke seien in einem Mönchskloster so gut wie ausgeschlossen, traf allerdings auf La Rábida ohnehin nicht zu. Weil die Franziskaner hier vor einem halben Jahrtausend einem von der portugiesischen Krone verfolgten »Hochverräter« Unterschlupf gewährt hatten, kamen tagtäglich weibliche Wesen in das Kloster. Nicht wenige hielten Fotoapparate in Händen. Vermutlich wäre das Monasterio den Touristen kaum eine Überquerung des Rio Tinto wert gewesen, wenn Portugal nicht ausgerechnet Christoph Kolumbus zum Asylanten abgestempelt hätte. Francisco empfand sehr viel Sympathie für den Entdecker der Neuen Welt.
Dem Jungen war durchaus bewusst, wie sein neuestes Interessengebiet von Pedro, dem »Wächter« des Klosters, eingeschätzt wurde. Diesen Eindruck hatte auch Gaspar mehrmals bestätigt – er war inzwischen Postulatsleiter in La Rábida und zudem für Francisco wie ein leiblicher großer Bruder. Pedro glaubte offenbar, für seinen Zögling einen erbitterten »Kampf gegen die Begierden des Fleisches« führen zu müssen, damit sich dessen Wissbegier nicht allzu sehr auf das andere Geschlecht fixierte. Der Guardian des Klosters liebte den Jungen wie einen Sohn und deshalb förderte er dessen moralische und intellektuelle Bildung mit unermüdlicher Hingabe.
Äußerlich eher ein schlaksiges Fliegengewicht, war Francisco im Geiste ein Schwerathlet. Schon sehr früh hatte er sich als ein ungewöhnlich lernbegieriges und erstaunlich begabtes Kind entpuppt. Vom Eifer ihres Guardian angesteckt, sahen es die Mönche von La Rábida als ihre gemeinschaftliche Aufgabe an, den jungen Geist, der alles wie ein Schwamm aufsaugte, mit Wissen zu füllen. Inzwischen lebte Francisco auf den Tag genau vierzehn Jahre im Kloster und überflügelte fast alle, wenn auch noch nicht an Weisheit, so doch an Gelehrsamkeit. Er beherrschte neben dem Spanischen auch Latein, Griechisch, Koptisch, Französisch sowie Englisch in Schrift und Sprache.
Letzteres hatte
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