Die unsichtbare Pyramide
er sich in den Grundzügen aus alten Fibeln selbst beigebracht und seinen Wortschatz anhand diverser Jahrgänge von Time erweitert. Irgendein Mönch musste das amerikanische Magazin in den Dreißigern abonniert und nach der Lektüre im Archiv des Monasterio eingelagert haben. So wie andere Jungen Rockmusiker á la David Bowie anhimmelten, schwärmte der Klosterschüler für David Pratt, einen der Reporter des Nachrichtenmagazins, dessen geradlinige Artikel es Francisco besonders angetan hatten, den außer ihm aber wohl noch nie jemand bemerkt hatte, weil er seine Beiträge hinter einer ganzen Reihe von Pseudonymen versteckte – damit mochte er andere täuschen, aber nicht jenen spanischen Jungen, dem die Natur neben einer Reihe anderer nützlicher Eigenschaften ein so außerordentliches Gespür für Sprache in die Wiege gelegt hatte.
Die Time-Hefte bildeten indes nur einen verschwindend geringen Teil der Klosterbibliothek und Francisco hatte im Laufe der Jahre fast alles verschlungen. Dabei entdeckte er – niemand konnte sich erklären, warum – eine Liebe für das alte Ägypten. Mehr noch als die gewieften Time-Reporter verehrte er Jean Francis Champollion wegen seiner Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen. Die Bewunderung für den Franzosen ging so weit, dass Francisco sogar die Sprache der Pyramidenerbauer und ihre Bilderschrift gelernt hatte.
Pedro betrachtete das Interesse seines Schützlings für die heidnische Kultur am Nil mit ähnlich gemischten Gefühlen wie dessen neuestes Forschungsgebiet, das andere Geschlecht. Der »Wächter« von La Rábida war vielleicht weltoffener, als man es von seinesgleichen erwarten mochte, aber trotzdem blieb er ein frommer Katholik. Ihm schwebte für Francisco eine kuriale Karriere vor: Kardinal, Sekretär des Heiligen Vaters, Präfekt der Glaubenskongregation – Papst? Irgendetwas in der Art. Der Junge hatte das Zeug dafür.
Nur ließ sich dergleichen kaum verwirklichen, wenn man ein gestörtes Verhältnis zum Zölibat hatte. Die Pflicht zur Ehelosigkeit war nun einmal elementarer Bestandteil des Ersten Ordens, den Pedro für seinen Schützling als Sprungbrett zu höheren Weihen auserkoren hatte. Ein verheirateter Mann konnte bestenfalls eine Laufbahn bei den franziskanischen Laien anstreben, auch Tertiare genannt. Was, fragte sich der Guardian, hatte Francisco in diesem »Dritten Orden« verloren? Nein, der Junge musste lernen – um mit den Worten des heiligen Paulus zu sprechen –, seinen Leib zu zerschlagen und ihn sich zum Sklaven zu machen. Nicht so wie jene Geistlichen, die den Zölibat als Rechtfertigung für ihre sexuellen »Befreiungsschläge« gebrauchten – so manche Entgleisung auf diesem Gebiet war nie an die Öffentlichkeit gedrungen, wenngleich darüber gemunkelt wurde. Bruder Pedro konnte erschreckend aufbrausend werden, wenn er von solcher Zügellosigkeit hörte. Er verabscheute jede Form von Heuchelei und Unmoral. Franciscos Keuschheit und Seelenfrieden waren ihm so heilig wie die Hostie beim Abendmahl. Ebenso wie der Ordensgründer gleichen Namens sollte der Junge eines Tages für alle Gläubigen ein leuchtendes Vorbild werden, ohne Falschheit, aber auch frei von der Pein eines ewig wunden Herzens. Nicht von ungefähr gestattete Pedro ihm daher die Liebe zur Ägyptologie – sie erschien ihm als das kleinere zweier Übel weitaus ungefährlicher als die Leidenschaft der Geschlechter.
Irgendwie musste der Guardian jedoch übersehen haben, dass auch Klarissen Frauen waren.
An diesem Morgen – es war der 20. November 1989 – sollte in der Kirche des Klosters ein prachtvoller Gottesdienst stattfinden und dazu war auch ein Klarissenchor eingeladen. Die Nonnen verdankten ihren Namen Klara von Assisi, der engen Weggefährtin des heiligen Franz. Pedro hatte die Sängerinnen für zehn Uhr einbestellt. Bis dahin war Francisco nur noch ein Nervenbündel.
In dem Bemühen, seinen desolaten Zustand zu verstehen, fand er sogar – abgesehen von den Mädchen – eine Reihe gewichtiger Gründe. Da war zunächst der Termin. Der Junge wusste sehr genau, dass sein Mentor den Gottesdienst nicht von ungefähr auf diesen Montag festgelegt hatte. Es war das Datum von Franciscos Eintritt ins Postulat, der ersten Ausbildungsstufe auf dem Weg zum Franziskaner. In dieser Zeit der Probe konnte der Postulant seine Beweggründe auf die innere Waagschale legen, um herauszufinden, ob er sich zum Ordensleben berufen fühlte. Pedro hätte seinen Schützling am liebsten
Weitere Kostenlose Bücher