Die unsichtbare Pyramide
Abt oder Prior angeredet wurde.
Pedro schloss die Augen, legte ein nachsichtiges Lächeln auf und sah seinen Schüler wieder an. »Müssen wir das wirklich jede Woche von neuem erörtern, Francisco? Das Wunder von La Rábida hat die Menschen tief bewegt. Jeden Tag stehen Wallfahrer vor der Tür, um einen Blick auf dich zu erhaschen. Trotzdem sehen die meisten kaum mehr als einen mit Blut und Staub bedeckten Anzug und ein paar Fotos in einer gläsernen Vitrine. Aber die heilige Mutter Kirche ist auch verpflichtet, auf die Gefühle der Menschen Rücksicht zu nehmen.«
»Habe ich etwa keine Gefühle? Bin ich etwa kein Mensch?«
»Doch, mein Sohn. Deshalb schone ich dich, wo irgend möglich.«
»Die Glaubenskongregation betrachtet Wunder mit großer Skepsis.«
»Und lässt gleichzeitig hunderttausende nach Lourdes pilgern. Es ist ein ständiges Abwägen.«
»Ich würde eher meinen, ein ausgemachter Widerspruch.«
»Francisco!«
Der junge Mann senkte den Blick. »Entschuldige. Aber ich möchte doch nur ein normaler Mensch sein, Bruder Pedro, und kein wandelndes Idol. Mir ist einfach unbegreiflich, wie oder was da überhaupt ›abgewogen‹ wird, wie du es genannt hast. Erklärt man einfach alles zum Wunder, das eine ausreichend große Zahl von Wallfahrern mobilisiert? Warum macht sich keiner die Mühe, die Person hinter dem Wunder kennen zu lernen?«
»Tue ich das etwa nicht?«
Francisco sah wieder auf und lächelte schief. »Ausnahmen bestätigen die Regel.«
»Hört, hört! Du sprichst in der Mehrzahl? Wen gibt es denn da noch, der sich für dich interessiert?«
Der Novize war plötzlich sehr intensiv in das Studium seiner Hände vertieft.
»Das Mädchen schwirrt dir nach wie vor im Kopf herum, habe ich Recht?«
Natürlich hatte Pedro das. Die Vorsängerin des Klarissenchors beanspruchte seit dreieinhalb Jahren ein nicht unbeträchtliches, wenn auch ziemlich zerklüftetes Gebiet in Franciscos Gedankenlandschaft. Nachdem er von einem »Teufelsaustreiber« niedergeschlagen worden war, hatte die Schöne sich nach ihm erkundigt, ihm später sogar einen Besuch abgestattet und sich als Clara Moguer vorgestellt. Einige Monate später war es zu einem zweiten Treffen der jungen Leute gekommen. Sie wolle dem Dritten Orden beitreten und ihr Leben in den Dienst am Menschen stellen, hatte die zauberhafte Clara ihm erzählt. In ihren blauen Augen lag ein für den Jungen ausgesprochen verwirrendes Funkeln, als sie scheinbar beiläufig hinzufügte: »Die Mitglieder der Franziskanischen Gemeinschaft dürfen übrigens heiraten.«
Wohlgemerkt, damals waren die beiden vierzehn. Nach etwa einem Jahr begegneten sie sich erneut. Wieder hatte Clara mit ihrer engelsgleichen Stimme einen Chor Klarissen angeführt. Danach begann für Francisco eine Zeit der Dunkelheit: Pedro hatte jeden weiteren Kontakt zu dem Mädchen unterbunden und seinen Schüler an die Wallfahrer ausgeliefert. So jedenfalls empfand es Francisco. Aus diesem Grund fiel seine Antwort einigermaßen kurz aus.
»Und wenn schon!«
Der Guardian erhob sich von seinem Stuhl, kam um den Schreibtisch herum und legte seine Hände auf Franciscos Schultern. Um ihm in die Augen zu sehen, musste er den Kopf zurücklegen. Seine Stimme klang sehr ruhig, verständnisvoll, aber auch ein wenig traurig. »Francisco. Mir sind Vaterfreuden nie vergönnt gewesen, weil mein Gelübde dazwischenstand. Aber du darfst mir glauben: Ich liebe dich genauso, als wärst du mein eigen Fleisch und Blut. Denkst du wirklich, ich würde irgendetwas tun oder von dir verlangen, was dir schaden könnte?«
Francisco ließ den Kopf hängen und brummte kleinlaut: »Nein. Aber ich verstehe trotzdem nicht, warum ich Clara nicht einmal mehr singen hören darf.« Pedro seufzte. »Ich muss dir etwas beichten.« Der junge Mann sah verwundert auf. »Du…?«
»Lass mich erzählen, bevor mich der Mut verlässt, denn ich habe länger nicht mehr darüber gesprochen, als du alt bist. Bei diesem… Geständnis geht es ebenfalls um ein Mädchen, das in meinen Augen genauso hübsch war wie deine Clara. Ich hatte mein Herz an sie verloren.«
» Du warst einmal verliebt?«
Pedro warf den Kopf zurück und lachte kurz auf. »Na, was denkst denn du! Ich bin doch nicht immer so ein vertrockneter knorriger Wurzelwicht gewesen wie jetzt. Das Mädchen hieß Estefania. Sie war fast noch ein Kind, ich erst ein Milchbart, als wir uns kennen lernten. Wir hatten uns schnell ineinander verliebt und glaubten füreinander
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