Die unsterbliche Braut
keuchte auf. Jede Sekunde würde mein Bein zu Asche zerfallen, da war ich mir absolut sicher. Ich wagte nicht, die Augen zu öffnen, und selbst als er seine Hände fortnahm, blieb der Schmerz.
„Fertig“, erklärte Theo, und ich hörte ihn aufstehen. „Gegen die Narbe kann ich nichts tun.“
Ich kratzte mein letztes bisschen Mut zusammen und öffnete ein Auge. Erleichterung durchströmte mich, als ich sah, dass das Bein immer noch dran war und so weit völlig normal aussah. Doch als ich versuchte, mit den Zehen zu wackeln, flammte das Feuer erneut mit voller Macht auf.
„Wenn es geheilt ist, warum tut’s dann immer noch so weh?“, fragte ich panisch. Was, wenn dieser Schmerz niemals verschwinden würde? Wie sollte ich mit so etwas leben? Hatte Henry dasselbe in seiner Brust gespürt? Wie konnte er demselben Ding noch einmal gegenübergetreten sein, wenn es so war?
„Weil keine Macht auf dieser Welt den Schmerz wegnehmen kann, bevor er bereit ist, zu gehen“, klärte Theo mich auf. „Das ist keine normale Wunde. Es wird nicht mehr als ein paar Tage dauern, weil er noch so schwach ist, aber bis dahin kann ich nichts für dich tun.“
„Er?“ Mit größter Vorsicht berührte ich die dünne silbrige Linie, die sich über mein Knie zog. „Warum sagst du er ?“
Theo nickte meiner Mutter zu. „Das zu erklären lasse ich in deinen fähigen Händen. Wenn ihr uns entschuldigen würdet.“
Er legte den Arm um Ellas Taille und machte sich auf den Weg zurück in Richtung der restlichen Ratsmitglieder. Mittlerweile saßen sie wieder alle auf den Bänken, die Köpfe einander zugeneigt, als würden sie sich beraten. Als Theo und Ella näher kamen, erhob sich Dylan, Avas Ex von der Eden High, und machte den beiden Platz. Selbst von der anderen Seite des Saals aus konnte ich seinen Blick spüren, der auf uns ruhte.
„Mom?“, setzte ich an und rieb mir das Knie, jetzt, da ich wusste, dass die Schmerzen dadurch nicht schlimmer würden. „Worüber reden die alle?“
Sie bot mir die Hand. Ich ergriff sie, immer noch erstaunt, wie stark sie sich anfühlte, ganz im Gegensatz zu den Jahren, als sie so zerbrechlich gewirkt hatte, und erhob mich mühsam. Ava blieb dicht an meiner Seite, als meine Mutter mich zu einer Bank im Vorraum führte und ich mich vorsichtig daraufsinken ließ. Es war unmöglich, dass Henry solche Schmerzen gelitten und ich nichts davon gemerkt hatte. Es musste damit zusammenhängen, dass der Rat mir erst sechs Monate zuvor die Unsterblichkeit verliehen hatte. Oder vielleicht war Henry einfach immun dagegen.
Ava setzte sich neben mich und nahm meine Hand. James blieb an der Tür, lässig an den Rahmen gelehnt, doch schon ein einziger Blick auf ihn verriet mir die Angst, die er unter seiner Maske der Gelassenheit zu verbergen suchte. Erst Ella, jetzt er – worum auch immer es hier ging, es war nichts Gutes.
„Erinnerst du dich aus deinem Unterricht mit Irene an die Titanen?“, wollte meine Mutter so leise wissen, dass ich mich in die Zeit zurückversetzt fühlte, als ich mich an ihrem Krankenbett über sie beugen musste, um ihr gebrochenes Flüstern verstehen zu können.
Ich schüttelte den Kopf. Irene schien nur die wichtigstenPunkte in diesen Mythen angerissen zu haben, und nach dem ersten Test hatte ich mir sowieso keine große Mühe gegeben, mir viel davon zu merken. Damals war es mir nicht wichtig erschienen.
„Sie waren eure Eltern?“, brachte ich zögernd hervor. Meine Mutter war Walters Schwester, aber nicht blutsverwandt, wie sie immer und immer wieder betonten. Wie Henry mir fast ein Jahr zuvor erzählt hatte, war das Wort „Familie“ das einzige Wort der Sterblichen, das dem Band nahekam, das sie teilten – doch das ging noch wesentlich tiefer.
„Auf eine gewisse Art und Weise“, antwortete meine Mutter. Als sie ein paar Blutstropfen auf ihrem Ärmel entdeckte, wedelte sie mit der Hand, und die Flecken verschwanden.
„Die Titanen waren die ursprünglichen Herrscher über die Welt, und irgendwann wurde ihnen langweilig, und sie erschufen uns. Zu Anfang waren wir zu sechst: ich selbst, Walter, Henry, Phillip, Sofia und Calliope.“
„Sie waren Sklaven“, warf James ein.
„Spielzeuge“, korrigierte ihn meine Mutter. An der unumwundenen Art, wie sie sprach, erkannte ich, dass sie diese Geschichte nicht zum ersten Mal erzählte. „Das war unser Daseinszweck. Als Spielzeuge der Titanen zu dienen. Sie liebten uns, und wir erwiderten ihre Liebe. Doch dann beschlossen
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