Die unsterbliche Braut
sie, dass wir ihnen nicht reichten, also erschufen sie eine neue Rasse, die – anders als wir – aufhören konnte, zu existieren, wenn sie einander bekämpften.“
„Sie erschufen den Krieg.“
Ava klang so leise und kleinlaut, dass ich kaum glauben konnte, dass diese Worte aus ihrem Mund gekommen waren. Ihre blauen Augen waren rot gerändert, aus ihren Wangen war wieder alle Farbe gewichen, und der Schmerz in ihrem Gesicht war so greifbar, dass ich es kaum ertragen konnte, sie anzusehen.
„Die Titanen zwangen die Menschen, grauenvolle Dinge zu tun, um sie zu unterhalten.“ Mit dem Handrücken wischte sich Ava die Augen und schniefte. „Ihnen wurden die einfachsten Grundrechte und Freiheiten verwehrt.“
„Die Menschen waren Soldaten, für die die Schlacht niemals endete“, fuhr James fort. „Sie waren den Titanen vollkommen ausgeliefert, und anders als die sechs Geschwister …“
„… hatten sie keine Möglichkeit, sie aufzuhalten.“ Nun setzte sich auch meine Mutter neben mich und legte die Hand auf meine. „Die Dinge, die Sterbliche einander antun, sind nichts verglichen mit dem, was die Titanen getan haben. Seelische und körperliche Folter. Keine Hoffnung auf Erlösung. Keine Stimme, die die mächtigsten Wesen des Universums hätte beeinflussen können.“
„Also rebellierten die sechs“, ertönte Avas Stimme. Sie starrte auf die Stelle zwischen uns, anscheinend völlig in die Betrachtung des samtenen Sitzkissens versunken. Doch ihre Stimme klang jetzt ein wenig fester. „Sie vereinten sich und benutzten die Kräfte, die ihnen die Titanen verliehen hatten, um sich zu wehren.“
„Und wir haben gewonnen.“ Meine Mutter lächelte. Sie war die sanfteste Person, die ich kannte, brachte nicht einmal die Spinnen und Schlangen um, die sich in ihre Gärten verirrten. Die Vorstellung, wie sie vor ungezählten Äonen in den Krieg gezogen war gegen eine Macht, die ich nicht einmal ansatzweise verstand, überstieg meinen Horizont. „Die größte Schwäche der Titanen war ihr Glaube, es gäbe keine größere Macht auf dieser Welt, und sie konnten sich nicht vorstellen, dass wir uns unsere eigenen Gedanken machen könnten. Wenn sie nicht die Sterblichen erschaffen hätten oder uns nicht zu ihrem eigenen Vergnügen Kräfte verliehen hätten, würden wir vielleicht bis heute noch ihnen gehören. Ihr Fehler bestand nicht darin, uns zu erschaffen, sondern etwas zu erschaffen, das wir beschützen konnten.“
Zärtlich fuhr sie mit den Fingern durch mein Haar, und die Geste war so vertraut, dass ich mich beruhigte und mich nicht mehr fürchtete.
„Wir haben so oft fast verloren, und es gab Momente, in denen wir aufgeben wollten. Doch alles, was es brauchte, um uns weiterkämpfen zu lassen, war die Erinnerung an das, was die Titanenden Wehrlosen antaten. Solange wir existierten, würden wir das nicht widerstandslos zulassen.“
Mit erschreckender Klarheit erkannte ich plötzlich das Gleichgewicht zwischen Göttern und Sterblichen: Auf seltsame Weise waren es die Götter, die nun gebunden waren, aufgrund eines Krieges, in dem die sechs Geschwister vor unbegreiflich langer Zeit gesiegt hatten. Sie – wir waren für unser Überleben genauso sehr auf die Menschheit angewiesen, wie die Menschheit vor all diesen Äonen von Walter und den anderen abhängig gewesen war. Das war der Grund, warum James sich so sehr vor dem Tag fürchtete, an dem die Menschheit schließlich aussterben würde und nichts als die Toten blieben – und jene, die über sie herrschten. Wenn die Menschen ihn eines Tages nicht mehr brauchten, würde er vergehen. Das würden sie alle, abgesehen von Henry und mir. Ohne die Menschen waren die Götter nichts.
„Das war es also?“, hakte ich nach. „Ein … Titan?“
„Er heißt Kronos und war einst der König der Titanen“, bestätigte meine Mutter. „Seit dem Ende des Krieges hat er tief und fest geschlafen, gefangen im Tartaros, mit Nyx als Wächterin über ihn und die anderen eingesperrten Titanen.“
Ava erschauderte, sagte aber nichts. Nervös fummelte ich am Stoff meines Kleides herum. „Nyx?“, fragte ich und hasste mich dafür, dass ich so wenig über diese Dinge wusste. Mein Unterricht im vergangenen Jahr hatte sich auf die griechischen Mythen konzentriert, nicht auf deren tiefere Wurzeln. Und kein noch so intensiver Unterricht würde die Tatsache wettmachen, dass ich das alles nicht wie der Rest von ihnen selbst durchlebt hatte. Oder wenigstens seit Jahrtausenden
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