Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
Bedeutung war. Also begannen wir, alles zusammenzusammeln, und dann stand da mitten in der Stadt plötzlich dieses sehr kleine Mädchen. Sie kann nicht älter als fünf Jahre gewesen sein. Sie war so wunderschön. Hinreißend. Leuchtend blaue Augen und all das. Ich sah sie, und ich wusste, dass wir sie mitnehmen mussten. Und sie war ganz ruhig, als ich auf sie zuging. Sie hatte einen kleinen Eisenbahnwaggon aus Holz in der Hand, und sie saß ganz still da, als hätte sie gewusst, was auf sie zukam, als hätte sie es akzeptiert. Da wusste ich, dass ich nicht so weitermachen konnte. Ich wollte nicht Teil eines Prozesses sein, in dem ein erst fünfjähriges Kind bereits aufgegeben hatte, bereits akzeptiert hatte, dass sein Körper entweder an einen Zuhälter oder an einen Organhändler verkauft werden würde. Also ging ich auf sie zu, schnappte sie mir und lief mit ihr zur westlichen Stadtgrenze. Ich gab ihr alles, was ich zu essen hatte, und dann gab ich ihr meine Pistole und sagte, sie solle verschwinden. Ich weiß nicht, ob Sie Rumänien kennen, aber die Wälder dort sind dunkler als alle Wälder, die ich bis dahin gesehen hatte. Der Wald scheint keinen Boden zu haben. Zwischen den Bäumen existiert bloß eine dunkle Leere. Als dieses kleine Mädchen also schließlich mit meiner Pistole in den Wald lief, schien es, als hätte sie sich in Luft aufgelöst. Als hätte sie nie existiert. Und ich dachte mir, dass es so wohl am besten für sie wäre. Dass sie einfach nie existiert hätte.
Mascis (erzählt): Nachdem sie die kleine rumänische Stadt geplündert hatten, sammelte Dmitrow seine Männer um sich, und sie beschlossen gemeinsam, sich abzusetzen. Sie verbrachten das folgende Jahr damit, während ihrer Missionen ihre Flucht zu planen. Als sie im Winter 2057 schließlich wieder in die rumänischen Wälder geschickt wurden, flohen sie in den Wald und verschwanden von der Bildfläche.
Dmitrow: Wir entschieden gemeinsam, dass es das Risiko wert war, sich abzusetzen und sozusagen selbst ins Geschäft einzusteigen. Unser eigener Boss zu sein.
Mascis: Glauben Sie, dass man hinter Ihnen her ist?
Dmitrow: Nun, sie haben genügend Männer dazu, nicht wahr? Aber nein, ich denke, dass die Anzahl der Fahnenflüchtigen für sie noch akzeptabel ist.
Mascis (erzählt): Doch die Anzahl der Fahnenflüchtigen steigt. Die Zahl der nicht autorisierten militärischen Banden in Russland wird immer höher. Das amerikanische Verteidigungsministerium kennt dieses Problem schon lange, doch in Russland bleiben erst jetzt ganze Bataillone ohne offizielle Erlaubnis vom Dienst fern und bilden eigenständige, bewaffnete Banden.
David Miles: Ich glaube nicht, dass Solowjew noch lange dabei zusehen wird.
Mascis (erzählt): David Miles, Professor für russische Geschichte an der Online-Universität von Georgetown, schätzt, dass etwa tausendfünfhundert nicht autorisierte militärische Banden aus Russland in Osteuropa, China und dem Nahen Osten unterwegs sind.
Miles: Sie müssen wissen, dass Solowjew zwar ein grausamer Diktator, aber gleichzeitig auf seine Art auch ein Visionär ist. Er wusste, dass er das sogenannte Rennen um Humankapital gewinnen musste, also begann er sofort, die Bevölkerungszahl seines Landes zu steigern. Und er wusste, dass eine Diktatur in einem Land mit einer solchen Bevölkerungszahl nicht bloß eine von vielen Möglichkeiten, sondern eine Notwendigkeit sein würde. Und auch wenn er Millionen Menschen getötet hat, um sein Ziel zu erreichen, wächst seine Bevölkerung in einem angemessenen Tempo. Seine Armee leidet nicht sonderlich unter der Überschuldung und den vielen Deserteuren, wie es bei uns der Fall ist. Gewaltsame Banden sind innerhalb der russischen Grenzen ein unbekanntes Phänomen, nicht wie hier und in Mexiko. Die Bevölkerung ist unter Kontrolle. Sie wird unterdrückt, ja. Aber sie ist unter Kontrolle. Währenddessen befördern wir immer mehr Menschen in die Todeszellen, und trotzdem ist die Kriminalitätsrate so hoch wie nie. Solowjew wusste, dass das Heilmittel zu einer riesigen Tragödie führen würde, doch er hatte genügend Voraussicht, um diese Tragödie zugunsten seines Landes auszulegen. Und er hatte Erfolg dabei, was ein furchteinflößender Gedanke ist.
Diese nicht autorisierten militärischen Banden sind ein natürliches Nebenprodukt einer Armee, die so groß ist wie die russische. Doch wenn jemand behauptet, dass Solowjew irgendeine dieser Gruppen in seinem Land tolerieren wird, vor allem
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