Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
unbedingt notwendig. Ich verurteile deine Entscheidung nicht, für immer und ewig auf diesem Planeten herumzulungern wie ein Skateboarder vor dem Stadtkino. Und ich würde mir wünschen, dass du meine Entscheidung ebenso wenig verurteilst.«
»Es tut mir leid, ich wollte dich nicht verärgern oder über dich richten. Ich bin egoistisch, ich weiß. Ich will einfach nicht mit ansehen, wie du gehst.«
»Das wirst du aber müssen. Es tut mir leid.«
Wir saßen wieder einen Augenblick schweigend da. Ich sah auf die Uhr. Es war neunzehn Minuten nach neun Uhr abends. Als ich noch in der Grundschule war, erklärte mir ein Freund einmal, dass jede Unterhaltung auf unbehagliche Weise immer zwanzig und vierzig Minuten nach der vollen Stunde ins Stocken gerät, weil die Geister über die Köpfe der Menschen streifen. Also rundete ich in meinem Kopf auf zwanzig Minuten nach neun auf. Um Mutters willen.
»Ich weiß, dass es schwer war, deiner Mum beim Sterben zuzusehen«, sagte er. »Ich war ja dabei. Die Schmerzen, die du, deine Schwester und ich erfahren haben, wünsche ich niemanden. Ich weiß, warum du dich danach so heftig an mich klammerst. Das weiß ich wirklich. Wenn deine Mutter noch bei uns wäre, dann schwöre ich dir, dass ich deinem Arzt so schnell vierzehn Riesen rüberschieben würde, dass du es gar nicht mitbekommst. Aber sie ist nicht mehr da, und ich habe hier unten alles erreicht, was ich erreichen wollte. Es geht mir gut. Ich möchte nicht, dass du denkst, dass mir am Ende etwas Furchtbares widerfahren wird. Es wird in Ordnung sein. Außerdem bin ich bereits alt. Ich nehme an, dass dich diese Behandlung nicht einfach um dreißig Jahre jünger machen kann, nicht wahr?«
»Nein, leider nicht. Der Alterungsprozess wird deaktiviert, nicht rückgängig gemacht.«
»Siehst du? Ich möchte nicht für immer und ewig alt sein. Das ist vermutlich der Grund, warum es jeder in deinem Alter unbedingt machen lassen will. Es ist ja nicht so, dass die Menschen nicht sterben wollen. Sie wollen bloß nicht alt werden. Nun, diese Chance habe ich bereits verpasst.«
»Die Generation, die wohl Pech gehabt hat.«
»Die Generation, die wohl Pech gehabt hat.« Er nippte an seinem Drink. »Du weißt, dass ich noch eine Weile hier sein werde. Ich trinke Rotwein. Ich esse Spargel. Ich werde dir noch eine ganze Zeitlang auf die Nerven gehen.«
»Ich würde es gar nicht anders wollen.«
»Wenn jeder von nun an so alt ist wie du, dann wird es wohl eine einzige verdammte Party werden.«
»Das kann schon sein.«
»Und was ist mit deinem Geburtstag? Wünsche ich dir jetzt jedes Jahr alles Gute zum neunundzwanzigsten Geburtstag? Muss ich dir die nächsten tausend Jahre jedes verdammte Jahr ein Geschenk kaufen?«
»Ich bin auch mit einer Torte zufrieden.«
»Das schaffe ich. Ich weiß, wie man eine Torte backt. Im Laden haben sie einige unglaubliche Tortenmischungen. Es gibt Buttertoffee und Streusel. Alles, was du willst. Und sie schmecken so gut wie selbstgemacht. Ich sage dir nur eines: Tortenmischungen sind eine der größten Errungenschaften der Lebensmittelindustrie der letzten sechzig Jahre. Sie sind einfach wunderbar. Wahrscheinlich wirst du noch immer da sein, wenn sie schließlich eine Möglichkeit finden, sie noch besser zu machen.«
»Wie soll das denn gehen?«
Er dachte einen Moment lang nach. »Sie werden fliegen. In der Zukunft wirst du fliegende Torten essen.«
Er schenkte mir eine Glas Whiskey ein, und wir sprachen weiter über die Buffalo Bills, Graham-Cracker-Pasteten und seinen zehnjährigen Kreuzzug für die Errichtung einer Verkehrsampel an der Kreuzung Rand Avenue und Route 118. Ich wäre gern bei ihm geblieben und hätte Gott weiß wie lange mit ihm über alles Mögliche gesprochen.
GEÄNDERT AM:
19.06.2019, 10:34 Uhr
Die Frau im Aufzug
Sie haben den Slogan auf den illegalen Plakaten entlang der First Avenue geändert: STOLZ IN DEN TOD. Meiner Meinung nach ist er nicht annähernd so geistreich wie der erste Spruch, den sie plakatiert hatten. Als ich daran vorbeiging, waren beinahe alle Plakate bereits beschmiert oder beschädigt. Auf einem prangte ein Graffiti, das mir besonders gefiel. Es war offensichtlich von einem überaus begabten Sprayer angefertigt worden. Es zeigte den Sensenmann, dem seine eigene Sense im Rücken steckte. Er baumelte in der Luft und war mausetot.
Anders als vor zwei Wochen war das Wetter gestern wahnsinnig schön. Der Himmel war so außergewöhnlich blau, als würde man ihn
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