Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Titel: Die Unsterblichen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Drew Magary
Vom Netzwerk:
durch einen Polarisationsfilter betrachten. Ich nahm es als gutes Omen und ging zu Fuß von der U-Bahn zur Arztpraxis. Dabei wandte ich eine ausgeklügelte Technik an, die ich entwickelt hatte, um in New York zu Fuß voranzukommen: Ich kniff den Hintern zusammen, machte große Schritte nach vorn, hob das Kinn an und vermied absichtlich jeglichen Augenkontakt mit sämtlichen Menschen und Dingen um mich herum. Auf diese Weise kann ich zehn Blocks in fünf Minuten zurücklegen, sogar wenn Sie mitten auf dem Weg einen Bus voller Menschen auf mich loslassen.
    Als ich auf das Gebäude zuging, in dem sich das Apartment von Dr. X befand, spürte ich am Rande meines Bewusstseins ein leichtes Angstgefühl emporsteigen. Es war nun zwei Wochen her. Er konnte verhaftet oder getötet worden sein. Vielleicht war er aber auch längst nach Brasilien geflohen und hatte Tausende Dollar Bargeld mitgenommen (alles nur in kleinen Scheinen unter fünfzig Dollar natürlich). Vielleicht hatten aber auch die Leute recht, die das Heilmittel nur als riesige Zeitungsente abtaten.
    Und dann war da noch das Geld. Ich halte nicht viel von Bargeld. Ich habe nie mehr als hundert Dollar in bar bei mir. Nun trug ich 350 Zwanzigdollarscheine mit mir herum. (In der Bank hatten sie keine Fünfziger mehr gehabt.) Das Geld passte nicht in meine Geldbörse, und ich hätte es auch nicht dort verstauen wollen, denn die Beule in meiner Hose wäre zu auffällig gewesen. Also hatte ich die Banknoten fest zusammengerollt und sie in meine Umhängetasche gesteckt. Meine Tasche hat allerdings etwa neuntausend Fächer, und ich bin der Typ, der etwas in irgendeinem Fach verstaut und dann sofort vergisst, wo zum Teufel er es hingetan hat. Während der Fahrt mit der U-Bahn tastete ich also die Tasche nach dem Geld ab, doch natürlich begann ich immer mit dem falschen Fach. Ich erlitt im Stillen einen kleinen Nervenzusammenbruch und filzte die gesamte Tasche, bis ich das Fach mit der Beule gefunden hatte. Das passierte mir mindestens dreimal.
    Doch nun war ich nicht mehr in der U-Bahn, und der wunderschöne Tag ließ mich schnell alle quälenden Zwangsvorstellungen vergessen. Es war herrlich hier draußen, und ich würde für den Rest meines Lebens neunundzwanzig Jahre alt bleiben. Das war alles, was zählte.
    Wieder ließ mich der Portier ohne weiteres bis zum Aufzug durch. Ich drückte den Knopf und starrte auf die leuchtende Ziffer über der Tür, die laufend niedriger wurde: acht, sieben, sechs, fünf … noch immer fünf … noch immer fünf … noch immer fünf … Mein Gott, versuchte da jemand, einen Büffel in den Aufzug zu verfrachten? Schließlich begann der Aufzug sich wieder zu bewegen, und dann kam er im Erdgeschoss an.
    Die Tür öffnete sich, und eine unglaublich attraktive Frau stieg aus. Mein dringender Wunsch, in den Aufzug zu kommen, verflog sofort. Sie war beinahe einen Meter achtzig groß (ich bin zwei Meter groß), und ihre Haut war natürlich gebräunt. Kalifornisches Blond. Hätte sie nicht leibhaftig vor mir gestanden, ich hätte sie für eine Kreation aus einem Bildbearbeitungsprogramm gehalten. Sie strahlte wie ein heller Leuchtturm, der alle in einem neu entdeckten Paradies willkommen heißt, auf dem Weg zu unbeschreiblichem Glück.
    Sie sah mich, lächelte mich kurz an und sagte »Hi!« mit der rauhen Stimme eines Partygirls. Ich sagte ebenfalls »Hi!«. Ich glaube zumindest, dass ich ebenfalls »Hi!« gesagt habe. Vielleicht habe ich auch nur meine Lippen bewegt und vergessen, den Laut dazu zu artikulieren. Wahrscheinlich habe ich das.
    Sie ging an mir vorbei, und ich drehte mich um, um ihr nachzusehen. Der Portier tat es mir gleich. Sie war das fleischgewordene Versprechen ewiger Jugend. Ein Gefühl von unfassbarer Dringlichkeit erfasste mich. Das Gefühl plötzlicher Liebe, von dem man weiß, dass es nicht wahrhaftig ist, das sich aber dennoch so anfühlt. Sie hatte einen unglaublichen Körper, athletisch und üppig zugleich. Irgendwie. Auf irgendeine Art. Ich weiß auch nicht. Ich hoffte sofort, dass sie gerade aus der Praxis von Dr. X gekommen war. Mein Wunsch, ewig zu leben, war nie stärker gewesen.
    Sie schwebte zum Eingang hinaus und drehte sich zur Seite, um die Straße hinunterzugehen. Ich konnte sie nicht mehr sehen. Ich legte die Umrisse ihres Körpers sorgfältig in einem leicht zugänglichen Teil meines Gehirns ab. Danach drehte ich mich zum Aufzug um, um mich wieder dem geschäftlichen Teil zu widmen. Die Türen hatten sich

Weitere Kostenlose Bücher