Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
besuchen, also ging ich davon aus, dass es entweder jemand von der Polizei oder aus dem Krankenhaus war, um den Papierkram nach Julias Euthanasie abzuschließen. Ich öffnete die Tür, und vor mir stand Ken, der nette Kollektivist, den David geschickt hatte, um mir im Krankenhaus zu helfen. Baumwollshirt. Khakihose. Das ganze Programm.
Er sah sehr besorgt aus. »Ich wollte Sie besuchen und sehen, wie Sie zurechtkommen.«
»Ach, es war eine blockierte Arterie«, sagte ich. »Aber ich arbeite daran, es behandeln zu lassen. Es ist schrecklich nett von Ihnen, einfach vorbeizuschauen.«
»Ich habe nicht von Ihrem Herzen gesprochen.«
Ich machte eine Pause. »Sind Sie hier, um mich anzuwerben?«
Er hob seinen Kopf und sah mich überrascht an. »Sie haben keine Ahnung, was passiert ist.«
»Offensichtlich nicht. Weshalb?« Ich machte mir plötzlich Sorgen. »Was ist passiert?«
»Darf ich reinkommen?«
»Natürlich.« Ich ließ Ken herein. Er ging an mir vorbei und blieb einen Moment lang mit dem Rücken zu mir stehen. Dann drehte er sich um.
»David ist etwas zugestoßen«, sagte er.
»Was ist passiert? Was zum Teufel geht hier vor?«
Ken holte seinen WEPS hervor und vergrößerte das Display. Ich sah ein Foto, das vor einer Kirche aufgenommen worden war. Ich konnte an dem Symbol, das einen Mann mit ausgestreckten Armen in einem Kreis zeigte, erkennen, dass es sich um ein Gotteshaus der Kirche der Menschheit handelte. Die eine Hälfte der Kirche stand in Flammen. Sie wurde von einer riesigen Wolke aus dickem, öligem, schwarzem Rauch eingehüllt – vor dem Eingang parkten Krankenwagen und Feuerwehrautos wild durcheinander, als wären sie von einem Blinden dort abgestellt worden. Sanitäter und Kirchgänger in Freizeitbekleidung liefen aus der Kirche. Sie trugen Bahren. Auf einer der Bahren erkannte ich eine schwangere Frau. Blutspritzer bedeckten ihr weißes T-Shirt wie rote Sprenkel. Ihre Hand lag auf ihrer Stirn. Ich konnte nicht erkennen, ob sie tot oder bewusstlos war oder bloß so unter Schock stand, dass sie es nicht schaffte, ihre Augen zu öffnen, um nicht daran erinnert zu werden, dass das, was um sie herum passierte, keine Einbildung war. Es war Sonia. Am linken Rand des Bildes sah man einen Reverend in einer gebügelten Khakihose und einem weißen T-Shirt, der versuchte, wieder in die Kirche zu gelangen, aber von einem Feuerwehrmann zurückgehalten wurde. In der Kirche befanden sich immer noch Menschen. Menschen, die er unbedingt finden musste. Aber das Foto verriet nichts darüber, wie es ihm ergangen war, und auch nichts über das Schicksal der Menschen im Inneren, die er versucht hatte zu retten. Er war wie erstarrt in seiner Qual. Unter dem Bild befand sich ein Link zu einem Feed mit einem Bericht, der vor dreißig Minuten gepostet worden war. Die Schlagzeile lautete:
Vermutlich siebzig Tote nach Bombenanschlag auf Kirche der Menschheit in Manhattan
Ich sah Ken an. »David?«
»Ja.«
»Nate?«
»Ja.«
Ich zeigte auf die Frau auf dem Bild. Ich wusste die Antwort, bevor ich die Frage gestellt hatte. »Sonia? Ella? Das Baby?«
»Sie sind alle tot«, sagte er.
Mein Blut begann zu brodeln, und meine Haut wurde zu einem dicken, rauhen Panzer. »Wer? Wer hat das getan?«
»Das wissen wir nicht. Es könnte Endstation Erde gewesen sein. Es könnte jede andere terroristische Gruppe gewesen sein. Wir bekommen jeden Tag Drohungen. Ich möchte Ihnen versichern, dass wir der Sache auf den Grund gehen werden.«
»Wer zum Teufel seid ihr, dass ihr der Sache auf den Grund gehen könnt? Mein Sohn ist tot. Was zum Teufel habt ihr Typen getan, um ihn zu beschützen? Ihr lasst jeden in eure Kirchen hinein, weil ihr glaubt, dass alle Menschen auf dieser Welt ja so verdammt perfekt und wunderbar sind. Und jetzt ist David tot. Und Sonia. Und Nate. Sie sind alle tot – für immer. Und zwar wegen euch .«
»Jetzt schlagen Sie um sich, John. Sie übertragen Ihre Trauer auf – »
»Fahrt zur Hölle«, zischte ich. »Was werdet ihr tun, wenn ihr die Typen geschnappt habt, die das getan haben? Häh? Sperrt ihr sie in einen Raum, bis sie bereit sind, den Platz meines Sohnes in eurer Kirche einzunehmen?«
»Bloß weil wir nicht an die Gewalt glauben, heißt das nicht, dass wir nicht an die Gerechtigkeit glauben.«
»So ein Schwachsinn. Ihr habt keine verdammte Ahnung. Ihr habt nichts, das auch nur im Entferntesten einer brauchbaren Lösung des Problems nahekommt. Diese Typen sind verdammt noch mal Abschaum.
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