Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
da lag meine Schwester in Seitenlage auf dem Sofa. Unter ihrer Wange befand sich ein kupferroter Fleck, wo der Speichel auf das Kissen getropft war. Und auch ihre Ohren und Haare waren voll davon, es sah aus wie ein Ölfleck. Ihre Augen waren so gelb wie altes Pergament. Sie atmete abgehackt und keuchend. Und ich fühlte mich, als würde ich ihre Hand halten, während sie von einer Klippe baumelte und die Schwerkraft unsere Hände immer weiter auseinanderzog.«
»Konnte sie sprechen?«
»Kaum. Jeder Satz schien sie ein Jahr ihres Lebens zu kosten. Sie war einige Monate zuvor mit mir im Krankenhaus gewesen, als ich einen Herzinfarkt gehabt hatte. In dem Krankenhaus hatte es einen Ausbruch der Schafgrippe gegeben, und das Virus muss sich wohl – ich weiß auch nicht – in ihrem Körper festgesetzt haben. Sie sagen ja, dass das passieren kann. Sie und ihr Ehemann waren unter Quarantäne gestellt worden, und sie erklärte mir, dass ein Team von Euthanasie-Spezialisten auf dem Weg zu ihnen war. Ich bat sie, es nicht zu tun. Ich bat sie, auf ein Heilmittel zu warten. Ich wollte das alles leugnen. Doch sie wollte es so. Sie sagte, dass sie nicht mehr mit der Angst leben wollte. Dass nichts mehr übrig war außer der Angst. Dass sie froh war, dass dies die letzte Entscheidung war, die sie treffen musste.« Ich drehte mich um, um mir noch ein Bier zu genehmigen. Solara hörte mir weiter zu. Ich hatte den Wunsch, ihr so schnell wie möglich alles anzuvertrauen, was mir auf der Seele brannte. »Es machte mich fertig, dass ich nicht bei ihr sein konnte. Verstehst du? Alles, was ich hatte, war ihr Bild auf dem WEPS. Alles schien so weit entfernt zu sein. Sie ließ den WEPS los, und ich sah ihr Kind ins Bild krabbeln. Er zeigte ebenfalls bereits die ersten Symptome. Aber er wusste nichts davon, verstehst du? Er verhielt sich genauso, als wäre er gar nicht krank. Er war zu jung, um irgendetwas an sich heranzulassen, das ihn hätte verletzen können. Manchmal wünschte ich, dass ich auch diese Kraft hätte. Ich wünschte, ich könnte glückselig über allem schweben, in der Welt sein, aber nicht Teil von ihr. Aber das kann ich nicht. Wie auch immer, das war das Letzte, was ich von der Familie meiner Schwester zu sehen bekam.«
»Und du wurdest nicht krank?«, fragte sie.
»Ich dachte, ich würde es werden. Ich dachte: ‚ Ich war doch in diesem Krankenhaus. Es ist sicher nur noch eine Frage der Zeit.‘ Aber hier bin ich. Ich bin der Letzte. Das, was übrig blieb.« Ich trank mein Bier mit drei großen Schlucken aus. »Es tut mir leid. Ich bin abgedriftet.«
»Das ist in Ordnung. Ich hatte eine Ziehmutter, der ich beim Sterben zusehen musste.«
»Eine Ziehmutter?«
»Meine Mutter hat sich das Leben genommen, als ich vierzehn war.«
»Es tut mir leid, ich wollte keine alten Wunden aufreißen.«
»Das ist schon in Ordnung«, sagte sie. »Mein Vater war reich, doch er verließ uns, als ich vier war, und gründete eine zweite Familie. Und sie waren die Glückspilze in seinem Familienstammbaum. Sie waren diejenigen, deren Existenz er anerkannte. Meine Mutter, meinen Bruder, meine Schwester und mich behandelte er wie Schmarotzer. Sie musste also mit allem allein fertig werden, und es scheint zu viel für sie gewesen zu sein, denn es stellte sich heraus, dass sie manisch-depressiv war. Manisch unter Manisch-Depressiven. Jede Unterhaltung mit ihr war, als hätte man an einem Roulettekessel gedreht. Eines Tages fand mein Bruder sie in ihrem Zimmer. Er hat mir nie erzählt, was genau er gesehen hat. Ich hatte eine Freundin, und ihre Familie nahm uns auf. Ihre Mutter wurde sozusagen unsere. Und dann vor zehn Jahren … du weißt schon.«
»Ja, ich weiß.«
»Ich sah ihr auf dem Display beim Sterben zu, und ich hatte den Drang, ihn abzuschalten, denn es wäre so einfach gewesen, es zu tun und nicht damit umgehen zu müssen – daraus ein weit entferntes Problem zu machen. Doch ich schaute zu, so lange sie es mir erlaubte. Dann erledigten sie den Job, und das war’s.« Sie klammerte sich an ihre feuchte Bierdose. »Das Bier ist gut.«
»Ich habe dich zu lange aufgehalten«, sagte ich. »Lass uns tun, was wir für dich tun müssen.«
Ich startete das Auto, und wir fuhren zurück auf den Highway und schlugen uns durch die immer größer werdenden Massen von Geistern und Gespenstern hindurch.
GEÄNDERT AM:
25.06.2079, 12:04 Uhr
Das Geburtstagskind
Ich mietete uns ein Hotelzimmer im Reservat von Fredericksburg, um nicht in der
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