Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
oder sie laufen zu lassen. Bei Jerome Maclin handelte es sich um einen Serienvergewaltiger, der mit größter Wahrscheinlichkeit weiter Frauen vergewaltigt hätte, wäre er aus dem Gefängnis entlassen worden. Doch wie kann man jemanden für die nächsten dreihundert Jahre einsperren, oder wie lange es auch immer dauern mag, bis er an einem Herzinfarkt oder Ähnlichem stirbt? Was sollen wir mit Gefangenen tun, die ewig leben? Ich gebe zu, dass diese Gesetzgebung nicht immer gerecht ist. Aber wir müssen pragmatisch vorgehen. Wir müssen ernsthaft darüber nachdenken, wer es verdient hat, auf diesem Planeten weiterzuleben, und wer nicht.«
Der Leiter der Ortsgruppe der ACLU, Niles McCormick, widerspricht dieser Stellungnahme vehement. »Der Staat Texas hat gerade ein riesiges Chaos angerichtet. Ich war schon vorher gegen die Todesstrafe, doch ich dachte mir zumindest, dass sie vielleicht doch ein wenig Sinn macht: Wenn jemand einen anderen Menschen kaltblütig ermordet, dann bezahlt er dafür mit seinem Leben. Durch diese Hinrichtung ist diese Argumentationslinie vollkommen verwaschen worden. Wer zum Teufel weiß jetzt noch, welches Verbrechen mit dem Tod bestraft werden sollte und welches nicht? Hat man den Tod verdient, wenn man jemandem das Augenlicht nimmt? Wenn man jemandem den Arm abschneidet? Spielt der Vorsatz eine Rolle? Und da reden wir noch gar nicht von den Menschen, die zu Unrecht verurteilt wurden. Es gibt so viele Unklarheiten. Sie haben damit nicht bloß eine Dose voller Würmer geöffnet. Es ist gleich ein ganzes Fass.«
Viele Staaten haben ihre Gesetzgebung bereits angepasst, um Gefangene nicht auf unbestimmte Zeit unterbringen zu müssen. Einige Staaten, darunter Kalifornien, haben die Höchststrafe trotz Protesten der Opferverbände auf hundert Jahre festgelegt. In Maine spielt man mit der Vorstellung, eine Gefängnisinsel zu errichten, doch es ist nicht zu erwarten, dass diese finanziert werden kann. Und in Oklahoma denkt man über eine verzögerte Hinrichtung nach, bei der jeder Gefangene mit einem tatsächlichen Alter von über fünfundachtzig Jahren automatisch hingerichtet werden soll, egal wie hoch sein Deaktivierungsalter ist. Die ACLU hat diese Maßnahme bereits als unmenschlich angeprangert.
Maclins Tod wurde von seiner Tante, Vertretern des Gefängnisses und einigen Familienmitgliedern der Opfer verfolgt. Keines seiner Opfer war anwesend. Als Henkersmahlzeit bekam Maclin Grillhähnchen, einen Maiskolben und Schokoladenpudding serviert. Danach wurde er in die Hinrichtungszelle geführt und durfte einige Worte an die Familienmitglieder und die Vertreter des Staates richten. Seine Rede umfasste nur drei Worte: »So ein Sch—ß.« Fünfzehn Minuten später hörte sein Herz auf zu schlagen.
GEÄNDERT AM:
04.01.2031, 22:09 Uhr
»Ich bin mir nicht einmal mehr sicher, ob man bei uns überhaupt noch von einer Ehe sprechen kann«
Meine Schwester kommt sonst nie zu mir in die Stadt. Sie möchte sich nicht mit dem Verkehr oder der Parkplatzsuche herumschlagen müssen, und sie möchte auch nicht mit dem Zug fahren, obwohl es sich um eine relativ kurze Strecke handelt. Als ich sie heute in der Ocean Bar entdeckte, hatte sie eine Flasche Wein vor sich stehen und bereits die Hälfte davon getrunken. Sie sah sehr zerbrechlich aus.
»Hast du das von Dad gehört?«, fragte sie.
»Ja, natürlich.«
»Hat er dir auch vorgeschwärmt, wie toll seine Krankheit ist?«
»Ja, und ich muss sagen, dass er sehr überzeugend geklungen hat. Ich nehme an, dass du nicht so begeistert davon bist?«
»Nein, das ist es nicht. In gewisser Weise bin ich erleichtert. Du weißt ja, dass ich mir ständig Sorgen mache.«
»Mit geht es mittlerweile auch so.«
»Sicher. Und er wird immer älter. Ich weiß, dass er sich hat deaktivieren lassen, aber trotzdem. Ich habe begonnen, mir darüber Sorgen zu machen, was wohl aus ihm wird. Noch eine gottverdammte Sorge mehr. Doch jetzt haben wir zumindest ein gewisses Maß an Sicherheit. Und er scheint damit klarzukommen. Das macht es, glaube ich, ein wenig einfacher.« Sie nahm ein Stück Brot aus dem Korb, brach es auseinander und legte die eine Hälfte auf das reinweiße Tischtuch, während sie auf der anderen herumkaute. Ich tat es ihr gleich.
»Die Sache mit Mum hat mir geholfen, mich darauf vorzubereiten«, sagte sie. »Ich meine, nichts kann mich mehr so aus der Bahn werfen wie ihr Tod. Damit fertig geworden zu sein, macht es seltsamerweise irgendwie einfacher. Ich
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