Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
sagte er, daß ihm ihre Großzügigkeit eine sehr große Hilfe sei. Wieviel sie entbehren könne? Gleichzeitig bestand ein Dilemma: Wenn er jetzt Flecainid nahm, würde zwar der Flimmeranfall mit hoher Wahrscheinlichkeit aufhören, umgekehrt aber die Gefahr eines Blutgerinnsels mit hoher Wahrscheinlichkeit zunehmen. Das fehlte gerade noch, daß er hier in Chicago einen Infarkt bekäme, dachte er, und gelähmt heimtransportiert werden müßte. Aber er spürte, daß ihm nichts anderes übrigblieb. Deshalb nahm er begierig die Tabletten, die sie ihm gab.
»Mehr wage ich nicht, Ihnen zu geben«, sagte sie. »Außerdem brauche ich den Rest selbst.«
»Sie leiden unter Herzflimmern?« fragte er. Sie nickte kurz, wollte nicht darüber reden.
»Ich werde mich mit der nächstgelegenen Apotheke in Verbindung setzen«, sagte sie. »Die öffnet bald. Trotzdem brauche ich eine Kopie Ihrer ärztlichen Zulassung.«
»Die bekommen Sie«, versicherte er. Dann erklärte er ihr seine Situation, daß die Angelegenheit geheimgehalten werden müsse, um die Familie nicht zu beunruhigen. Sie nickte verständnisvoll.
»Kommen Sie einfach bei nächster Gelegenheit unauffällig bei mir vorbei.« Er bewunderte ihr Taktgefühl und ihre Art, sich auszudrücken. Er ging direkt zum Frühstücksbüfett, nahm ein Glas Wasser und schluckte zwei Tabletten. 200 Milligramm. Vielleicht etwas mehr? Schnurzegal. Dann ging er den Flur entlang zu den Zimmern, in denen sich ausgewählte Personen der Dahl-Familie verschanzt hatten, wie Line es leicht rotweinbeschwipst am Vorabend ausgedrückt hatte.
Natürlich waren sie wach. Die Töchter saßen in ihrem Zimmer vor dem Fernseher und zappten. Elisabeth absolvierte auf dem Doppelbett ihre Yoga-Übungen. Sie hatte die bewundernswerte Fähigkeit, all diese buddhistischen Weisheiten in den Alltag zu integrieren, dachte er. Im Flugzeug hatte sie meditiert, so gut es in der Touristenklasse eben möglich war, saß lange Zeit mit geschlossenen Augen, ohne zu schlafen. Jetzt unterbrach sie ihre Übung, bei der sie für einen Moment aussah wie ein Fischreiher. Nun richtete sie sich auf und wurde zum graziösen Schwan.
»Guten Morgen Papa«, riefen die Töchter mit fröhlichen Stimmen.
Er rief zurück.
»Wir haben doch gut geschlafen?« fragte Elisabeth.
»Ja, oder etwa nicht?« sagte er.
»Wo bist du gewesen? Du siehst verschwitzt aus.«
»Auf Erkundungstour. Ich habe das Fitneß-Studio ausprobiert …«
»Das Fitneß-Studio?« Annika starrte ihn verständnislos an.
»Den Frühstücksraum eben.«
Sie akzeptierte die Lüge. Er schaute auf die Uhr und zählte die Minuten. Gewöhnlich wirkte Tambocor nach einer Stunde.
»Wo frühstücken wir?« sagte er, bevor er duschen ging.
»Auf dem Zimmer«, sagte Elisabeth.
»In der Lounge«, sagte Line.
»Unten im Restaurant«, sagte Annika. »Ihr wißt schon, das große Büfett.«
Annika setzte sich durch, und eine Viertelstunde später standen sie im Aufzug hinunter zum Lockwood-Restaurant.
Thomas spürte, daß sein Herz jetzt anders arbeitete, ein Wechsel zwischen periodisch schnellem Sinusrhythmus, acht bis zehn Schläge nacheinander, und einer Art Bradykardie, langsame, kräftigere Schläge. Das machte ihm Angst. Ventrikelflimmern konnte ohne Vorwarnung einsetzen. Da war er innerhalb von Sekunden tot. Er konnte Elisabeth und den Töchtern schlecht sagen, daß alles in Ordnung sei, daß er sich nur rasch einen Herzschrittmacher besorgen müsse.
Beim Verlassen des Aufzugs faßte sich Elisabeth an den Kopf.
»Herrgott, wir müssen ja zu Hause anrufen.«
Line stöhnte. »Hat das nicht Zeit bis nach dem Frühstück?«
Thomas merkte, daß Elisabeth ihn fragend anschaute. Als seien sie beide auf frischer Tat ertappt worden. Sie hatten keinen Gedanken an die Alten verschwendet! Sie hatten nur die neue familiäre Freiheit genossen. War das nicht erlaubt? Nein, entschied er für sich. Und wenn, dann war es ungewohnt.
»Natürlich können wir es noch etwas aufschieben«, sagte Thomas Brenner endlich. »Bei ihnen ist erst früher Nachmittag.«
Elisabeth nickte. Die Töchter atmeten erleichtert auf. »Amerikanisches Büfett!« sagte Annika. »Ich freue mich wie ein kleines Kind.«
Eine junge, dunkelhäutige Frau erwartete sie am Eingang. Thomas nannte die Zimmernummern. Sie antwortete in starkem Chicagoer Dialekt, der unmöglich zu verstehen war, und führte sie ins Restaurant. Annika blickte sich mit ängstlichen Augen um.
»Wo ist das Büfett?« fragte sie
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