Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
bastelte er ein Häuschen aus Pappe, stellte es in die Rezeption seines Palmer House und schrieb darauf: ›Das ist das Material, aus dem das Grand Pacific gebaut ist‹.«
»Der wahre Kapitalismus«, nickte Thomas Brenner.
»Aber Palmer House war das erste feuersichere Hotel in den USA «, sagte Line begeistert. »Potter Palmer forderte die Leute sogar dazu auf, in ihren Hotelzimmern Feuer zu legen und danach die Tür eine Stunde geschlossen zu halten. Wenn sich das Feuer dann nicht ausgebreitet hatte,brauchte der Brandstifter nur für die Schäden aufkommen, die er selbst verursacht hatte, plus den Preis für das Zimmer natürlich.«
»Wieder typisch Kapitalismus.«
»Das war noch nicht alles. Im Friseurladen flieste er den Boden mit Silberdollarmünzen. Er muß größenwahnsinnig gewesen sein. Zweitausend Gästezimmer, dreißig Kilometer Flure. Wenn ein einundzwanzigjähriger Gast jede Woche in einer der verschiedenen Badewannen baden würde, wäre er, bis er alle benutzt hätte, vierundsechzig Jahre alt. Und würde jemand in jedem der Zimmer übernachten wollen, würde das sechs Jahre beanspruchen. Und hier wohnen wir !«
Als sie mit dem Frühstück fertig waren, gingen sie hinunter zu den Arkaden mit den vielen kleinen Geschäften und versuchten, sich einen Überblick zu verschaffen.
»Laßt uns den Ausgang zur Wabash Avenue benutzen, um etwas Luft zu schnappen«, sagte Elisabeth. Woher kannte sie den? fragte sich Thomas. Das Flattern verursachte ein Schwindelgefühl, aber er schwitzte nicht mehr so stark, solange ihm das Treppensteigen erspart blieb. Zum Glück gab es in diesem Gebäude überall Fahrstühle. Sie gingen zu den golden eingerahmten Türen. Ein großer, dunkelhäutiger Liftboy, den sie schon vom Vortag kannten, grüßte und fragte das übliche »How are you?«. Thomas wurde bei diesen Höflichkeitsfloskeln immer verlegen. Sollte man erwidern »I’m fine, Thank you«? Er horchte auf Elisabeth. Sie sagte kurz: »Fine. How are you?« So kamen sie ins Gespräch. Er hatte sich immer gewundert, wie schnell Amerikaner zu plaudern begannen. Er begleitete sie hinaus auf die Straße. Eisiger Wind schlug ihnen entgegen. An eine solche Kälte konnte sich Thomasnicht erinnern. Als würde sie der Lake Michigan aus tiefster Tiefe anblasen. Die Mädchen fröstelten. »Hier können wir nicht stehenbleiben«, riefen sie im Chor. Sie hatten ja keine Jacken an. Der Liftboy wollte wissen, woher sie kamen. Norwegen. Der übliche Meinungsaustausch. Genauso kalt wie hier. Vielleicht kälter. Manchmal bis minus zwanzig Grad. »Warum wohnt ihr dann dort?« fragte der Mann. Sie wußten keine Antwort. »Lauft ihr Ski?« »Nicht alpin, nur Langlauf«, sagte Line in dem irritierenden amerikanischen Slang, den sich die norwegische Jugend dank der albernern Fernsehserien zugelegt hatte. Der Liftboy begann zu lachen. Ja, dachte Thomas Brenner, sie standen hier wie Kuriositäten. Aber genau solche kuriosen Typen hatten dieses Land aufgebaut. Der Großvater von Potter Palmer war sicher ein arbeitsloser Pferdemistfahrer irgendwo aus Europa. Er konnte sich nicht bezähmen:
»Hilton war Norweger«, sagte er.
»Welcher Hilton?«
»Der dieses Hotel gekauft hat. Einer der Vorfahren von Paris. Conrad N. Hilton. Ich glaube, er stammte aus Jessheim.«
»Was ist Jessheim?«
»Eine Straßenkreuzung in Norwegen.«
»In Amerika ist alles möglich«, sagte der Liftboy lakonisch und zuckte die Schultern.
»Wir müssen jetzt reingehen«, sagte Line. Sie nahmen den Aufzug zum Executive Floor. Thomas prüfte heimlich seinen Puls, als die andern es nicht sahen. Stabil bei hundertsechzig. Das war viel zu hoch. Ein Mensch mit hundertsechzig Puls hat gerade einen Spurt nach dem Marathon hinter sich oder die Goldmedaille im Schwimmen gewonnen. Er dagegen tappte nur durch ein Luxushotel. Ein massives Gebäude aus Stein und Beton, dasauf ihn trotz der eleganten Ausstattung wie ein Gefängnis wirkte. Ein gnadenloser Ort. Gnadenlos, wie Amerika einmal gewesen war und immer noch ist, Obama hin oder her.
»Wir müssen zu Hause anrufen«, sagte Elisabeth, und ihr Blick wurde abwesend. Er hörte das leise Seufzen der Töchter. »Wir müssen mit Mama anfangen«, sagte sie. »Mit Janne. Nein, mit dem Krankenhaus.«
»Selbstverständlich«, sagte er.
Sie setzten sich auf die Bettkante, und er wählte die Nummer des Ullevål-Krankenhauses. Plötzlich begriff er, daß sie es so wollte. Je nach Situation schob einer den anderen vor. Er bekam
Weitere Kostenlose Bücher