Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
gut aufgelegt gewesen waren. Das war jedenfalls lange her. Eisiger Wind schlug ihnen entgegen, kaum standen sie am Anfang der East Monroe Street. Der Liftboy kam diensteifrig an. »Taxi?«
»Nein danke«, sagte Elisabeth. Und mit einem fragenden Blick zu den andern: »Wir gehen doch zu Fuß?«
»Haben Sie den Wetterbericht nicht gehört?«
»Nein?«
»Schneesturm ist angesagt. Im Laufe der Nacht.« Er verdrehte die Augen. »Die Hölle geht wieder los.«
Aber Elisabeth ließ sich nicht beeindrucken. »Him with the foot in his mouth«, sagte sie.
»Was bedeutet das?«
»Das ist eine Novellensammlung von Saul Bellow«, erwiderte sie.
»Keine Ahnung wovon Sie reden.«
»Von Bellow, dem Nobelpreisträger!«
»Sorry, Ma’am.«
»What kind of day did you have. Flughafen O’Hara im Schneesturm. Kein Flugverkehr mehr möglich.«
»Richtig. Wann wollen Sie zurück nach Europa?«
»Wir sind gerade erst angekommen.«
Er nickte. »Aber wenn Sie die Stadt sehen wollen, müssen Sie sich beeilen. Morgen wird hier alles zusammenbrechen.«
Thomas Brenner meinte so etwas wie Freude im Elisabeths Gesicht zu sehen. Ihr gefiel diese Aussicht.
»Wir wohnen ja nahe bei den großen Sehenswürdigkeiten«, sagte er. »Dorthin können wir auch bei Schnee. Wichtig ist nur, daß Elisabeth die Schauplätze von Bellows Büchern sieht.«
Sie schaute ihn dankbar an und warf dann den Töchtern einen prüfenden Blick zu. »Ich hatte das nicht für heute geplant«, sagte sie. »Aber wenn ihr nichts dagegen habt. Es ist ja eine Art Pilgerreise.«
»Dann müssen wir auch das Haus von Obama besuchen.«
»Sicher. Es liegt nicht weit von Bellows letzter Wohnung.«
Alle waren glücklich. Die Töchter hatten eigentlich nie Schwierigkeiten gemacht, dachte er. Auch als sie in derPubertät waren und später als Teenager konnte man mit ihnen reden. Da gab es ganz andere Fälle. Er wußte, daß Vigdis in Kongsberg jahrelang auf Zehenspitzen gelaufen war, bis ihre Töchter erwachsen waren. Ein Terrorzustand, denn alles, was sie machte, war falsch. Er erinnerte sich, daß er Elisabeth gefragt hatte, ob es dergleichen auch in Rußland gab. Konnten die Mädchen in den ärmlichen Dörfern im Kaukasus sich ebenso gegen die Eltern auflehnen wie im reichen Teil der Welt? Sie glaubte es nicht. Der Liftboy winkte ein Taxi heran, und sie stiegen alle vier ein, Annika vorne, damit es hinten nicht zu eng wurde. Am Steuer saß eine dunkelhäutige Frau, die sofort drauflos redete. Thomas Brenner verstand nur die Hälfte, konnte ihr aber erklären, daß sie eine Stadtrundfahrt machen wollten. Einige wichtige Punkte in den Vororten, ehe der Schneesturm anfing. Sie nickte vielsagend. »Es wird die Hölle«, sagte sie.
»Wir streichen den Humboldtpark und die Claremont Avenue«, sagte Elisabeth.
»Was ist da?«
»Dort wohnte Bellow ursprünglich, und dort ging er in die High School.«
Sie hatte das sicher schon früher gesehen, dachte er. Der Fahrerin sagte sie: Hyde Park bitte. 5801, South Dorchester. Und danach 51st Street und Greenwood.«
»Was wollen Sie dort?«
»Obama und Bellow«, sagte Elisabeth. »Kennen Sie Saul Bellow?«
»Bellow? Saul Bellow? Ein Fernsehstar?«
»Nein, ein Schriftsteller. Bekam den Nobelpreis für Literatur.«
»Schön für ihn«, sagte die Fahrerin. »Ich chauffiere euch, wohin ihr wollt. Und in dieser Stadt lieben wir Obama.«
Sie kreuzten die Michigan Avenue. »Art Institute!« rief Elisabeth begeistert. So gut aufgelegt hatte er sie schon lange nicht mehr erlebt. Oder spielte sie ihnen jetzt etwas vor? Diente die Reise dazu, eine Lüge ans Licht zu bringen? Ein Geheimnis aufzugeben, das sie quälte? Das tiefe Bedürfnis, reinen Tisch zu machen? Sie kamen zum South Lake Shore Drive und bogen nach Süden ab. Plötzlich verstand Thomas Brenner, was Mildred Låtefoss mit Hamar gemeint hatte. Beim Chicago Harbour lag es nahe, an den Mjøsa-See zu denken, obwohl sich Northerly Island nicht unbedingt mit Domkirkeodden vergleichen ließ und Palmer House Hilton mit dem Astoria-Hotel. Das Wetter war still und grau, wie vor einem Sturm. Und die Taxifahrerin redete auch von dem Sturm, der erwartet wurde, von irren Schneemassen, die drohten. Jeden Winter sah man in den Nachrichten diese Bilder von Chicago. Eiseskälte, Autos, die steckenblieben, hilflose Amerikaner, die Schnee schippten und den Reportern ihre Not klagten. Ein ewig gleiches Ritual. »Wie lange kann O’Hara gesperrt sein?« fragte Thomas Brenner. »Tagelang«, sagte
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