Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
die Fahrerin. Thomas Brenner gefiel diese Vorstellung. Das war es, was er sich wünschte. Ein Ausnahmezustand, der ihn noch enger mit Elisabeth und den Töchtern zusammenbringen würde. Er war nicht stark ohne sie, dachte er. Und die Töchter waren sowieso nicht stark ohne ihn und Elisabeth. Sie fuhren südwärts Richtung Hyde Park und Chicago University. Das, was ihn besonders an Bellows Büchern fasziniert hatte, war die mangelnde Fähigkeit der Hauptpersonen, ihre Grenzen zu erkennen. Einige von ihnen lebten über ihre Verhältnisse, zerstörten ihre Existenz, indem sie sich im Luxus verloren. In vieler Hinsicht ähnelte das einem Porträt der Mittelfeldspieler in Norwegen. Ein tiefer, katastrophaler Mangel an Selbsteinschätzung. Undzugleich: Lebenslust, Begierde. Elisabeth Dahl deutete von Rücksitz aus auf die Skyline, die langsam hinter ihnen verschwand. »Ist das nicht wunderschön?« Alle stimmten zu. Sie wollten ihr eine Freude machen, spürten alle, wie tiefempfunden ihre Begeisterung war. Sie bogen nach South Dorchester ab. »Aber das ist doch wie in Fredrikstad!« sagte Line erstaunt. Alle lachten. »Ein bürgerliches Vorstädtchen, sonst nichts«, sagte Elisabeth. »Je weiter du nach Süden kommst, um so brutaler sieht es aus.« Thomas Brenner hielt vergeblich auf den Straßen nach Menschen Ausschau. »Man fährt hier mit dem Auto«, klärte ihn Elisabeth auf. Niedrige Häuser in quadratischen Straßen. Er wurde melancholisch. Da hielt die Taxifahrerin vor einem enormen, altmodischen Gebäudekomplex, gegenüber von einem Sportplatz. »5801 South Dorchester«, verkündete sie und ließ den Motor laufen. Sie stiegen alle vier aus und stellten sich vor das riesige Gebäude, dessen massive Konstruktion Palmer House ähnelte.
»Unglaublich«, sagte Line. »Er muß reich gewesen sein.«
Elisabeth nickte. »Er wurde reich durch seine Bücher. Vielleicht nutzte er die Möglichkeiten des Kapitalismus, die auch in der Literatur funktionieren. Eigentlich eine grenzenlose Frechheit.«
»Wieso?«
Sie zögerte. »Weil er damit die nichtsahnenden Menschen ausnutzte, die ihn ursprünglich geliebt hatten. Dazu der ohrenbetäubende Applaus.«
»Ich verstehe, was du meinst«, murmelte Annika.
Sie hatten doch Bellow gar nicht gelesen, dachte er. Die Mutter hatte jeden Lesezwang vermieden, aber sicher gehofft, einmal von ihren Töchtern eine Reaktion zu bekommen. Das Interesse, das sie selber für diesen Schriftsteller gezeigt hatte, war ungeheuer. Thomas und die Töchter folgten ihr durch den Haupteingang ins Innere, wo sie mit der Pförtnerin reden wollte. Wieder so eine kräftige, dunkelhäutige Madame, die wie ein Wasserfall redete. Reservierte Zurückhaltung suchte man in dieser Stadt vergebens.
»Ach, Sie habe ich hier schon mal gesehen«, sagte die Frau und musterte Elisabeth.
»Unmöglich«, sagte Elisabeth. »Ich bin noch nie hier gewesen.«
»Wie kann ich Sie dann gesehen haben?«
Thomas Brenner sah, daß seine Frau nur den Kopf schüttelte. Aber sie errötete. Jetzt hatte er den Beweis, dachte er. Hier und jetzt. Und konnte nichts damit anfangen. Er würde es nie wagen, sie mit seinem Verdacht zu konfrontieren. Das würde nichts ändern. Aber er merkte, daß Annika und Line ihre Mutter zweifelnd anstarrten.
»Hier wohnte Saul Bellow, nicht wahr?«
Die Pförtnerin nickte.
»Gewiß wohnte er hier, Ma’am. Aber glauben Sie bloß nicht, daß ich Ihnen Geschichten aus seinem Leben erzählen kann. Alle seine Geschichten sparte er auf für die, die seine Bücher lesen.«
»Aber war er denn nett?«, wollte Line wissen.
Die Pförtnerin zuckte die Schultern. »Nicht besonders«, sagte sie. »Immer waren junge Leute um ihn. Studenten oder geheimnisvolle Frauen. Und Männer, die aussahen wie Gangster.«
»Genau wie in den Büchern.«
»Wirklich? Man sah ihn kommen und wieder verschwinden. Aber so ist es ja mit den meisten. Schrieb er gut?«
Elisabeth nickte. »Er war der Beste.«
Als sie wieder nach draußen gingen, sahen sie das Universitätsgelände mit der Sportanlage vor sich.
»Nichts, was man nach Hause schreiben könnte«, stellte Line fest.
»Tut mir leid«, sagte Elisabeth.
»Aber es war schön, daß wir es gesehen haben«, sagte Thomas.
»Die Frau sagte, sie hätte dich schon einmal gesehen«, fuhr die Tochter jetzt sehr skeptisch fort.
»Sie muß mich verwechselt haben.« Thomas sah, daß sich Elisabeth unbehaglich fühlte. »Zeit für Obama«, sagte er.
Als sie im Taxi saßen und
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