Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
sie bisher mit ganz anderen Dingen zu tun gehabt, aber dann diese Halle gefunden, dieses Fischerdorf, dieses Gehöft und erkannt, daß hier der perfekte Ort war für ein Institut, ein Museum, einen Kontemplationstempel, eine Buchhandlung oder eine Akademie, und von diesem Moment an waren sie Enthusiasten, die sich in der einheimischen Bevölkerung für unentbehrlich hielten. Ihre Augen leuchteten, und sie redeten wie ein Wasserfall.
Hatte er selbst jemals geglaubt, daß das, was er machte, das Wichtigste war auf der Welt? Niemals. Er hielt sich meistens für ein kleines Rädchen im Getriebe, aber hier marschierte die Begründerin des Tanzinstituts in einer riesigen Toga auf die Bühne. Daß ausgerechnet der Tanz ihre Berufung darstellte, war schwer nachvollziehbar, aber Line hatte erzählt, daß sie an der Norske Opera als Coppelia Triumphe gefeiert hatte und daß sie außerdem Schülerin bei Birgit Cullberg gewesen war.
Weil diese Vorstellung die erste im neuen Semester war, hieß sie alte und neue Freunde des Tanzinstituts willkommen und erläuterte die schwierige Situation, in der sich das Institut den kommunalen und staatlichen Stellen gegenüber befand. Personen, die solche Institutionen leiten,führten mit den Politikern einen Kampf bis aufs Messer, und Marit Salvesen, die Leiterin des Tanzinstituts, war keine Ausnahme. Sie entschuldigte sich wegen der Semestergebühren, die sich deutlich erhöht hatten, war sich aber nicht zu schade, um Spenden zu bitten. Sie wußte, daß gutbetuchte Eltern im Publikum saßen. Außerdem all die Freunde, die sogenannte bunte Versammlung, die Tänzer aus Holmlia und Romsås, die es sich gewiß nicht leisten konnten, am Tanzinstitut zu studieren, die aber dort ihre reichen Freunde hatten.
Wie flott und modern sie waren, dachte Thomas Brenner. Sie waren zum Tanzen wie geschaffen, vielleicht mehr noch als die, die hinter Marit Salvesen auf der Bühne standen und nur darauf warteten, anfangen zu können. Aber Enthusiasten gaben nicht so schnell auf. Sie hatten viel zu sagen, und das endete auch diesmal in einer Laudatio auf sich selbst, als sie, indem sie allen andern dankte, eigentlich zum Ausdruck brachte, welche ungeheuere Leistung ihr zuzuschreiben war, wie knapp vor einer Schließung das Tanzinstitut gewesen sei, wie nahe der Konkurs usw.
Sie begann, Einzelpersonen zu danken, dem Oberbürgermeister von Oslo, dem einen oder anderen Stadtverordneten, einem früheren Kollegen vom Opernballett und einem Journalisten der Aftenposten . Sie hatte ein gutes Timing für ihre Danksagungen, so daß genug Applaus möglich wurde, aber Thomas merkte, daß die Tänzer hinter ihr anfingen, ungeduldig zu werden, besonders Line, die in dieser Positur ihrer Großmutter Bergljot und ihrer Schwester Annika auffallend ähnlich sah, die feine Nase, der trotzige Mund. Er merkte, daß er ihretwegen nervös wurde. Immerhin sollte sie ja etwas vorführen. Ihre erste Choreographie. Sie sollte die Show starten.
Aber schließlich war die enthusiastische Rednerin fertig. Der junge Typ mit dem Lockenkopf hinter dem Mischpult fuhr die Lautstärke hoch, und die Overtüre zu Wagners Rheingold erfüllte den Saal, das Licht wurde heruntergedimmt, und Marit Salvesen setzte sich auf ihren reservierten Platz in der ersten Reihe. Der Lichtdesigner hatte plötzlich alle Hände voll zu tun, und bald war die gesamte Truppe in einem Raumschiff weit weg, und ein DJ ganz links auf der Bühne saß im Punktscheinwerfer, begleitet vom stürmischen Applaus der Vorstadtgang, und Thomas ahnte, daß gleich Lines Nummer anfangen würde, denn es kamen Rapper auf die Bühne, zuerst als schwarze Schatten, dann im vollen Licht.
Die Musik wechselte abrupt zu Karpe Diem, und Thomas stellte überrascht fest, daß tatsächlich Karpe Diem auf der Bühne standen, leibhaftig, begrüßt von einem ohrenbetäubenden Applaus der Vorstadtgang und der eher verwirrten Eltern und Geschwister. Im Nu entwickelte sich eine gewaltige Power auf der Bühne: »Ey, laß dich mitnehmen, wo kein Haß ist, und adieu Hauslatschen und Telemark und Wanderung nach Kragerø.«
Thomas hörte, daß Annika zusammen mit den andern Jugendlichen begeistert aufheulte. Das waren bekannte Töne für sie. »Dort hat man noch nie etwas von Rama-ramadan gehört / Und alle finden es idiotisch, kein Bier zu trinken.«
Aha, dachte Thomas. Jetzt verstand er, wovon Line vor einigen Wochen gesprochen hatte. Vestkantpakistani. Magdi Omar Ytreeide, Abdelmaguid, Cirag
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