Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
Rashmikant Patel und DJ Marius Thingvald – der auf der rechten Seite – brachten den Hit vom Vorjahr. Aber jetzt hatte Line, seine Line, in Jogginghosen und Kapuzenpulli, ihre eigene Choreographie dazu beigetragen und den Hip-Hop-Textmit Bendik, Henrik, Preben, Oda, Vibeke, Tea, Tobias Fredrik und Nora lebendig werden lassen. »Fräulein – atmen Sie ein, und entspannen Sie sich, da sind Mehdi Omar Muhammed Abdul Megid Mustafa …« Und dann kam der Refrain, die Vestkant-Stimme, die Holmenkoll-Stimme, so wie sie zur Zeit dort oben am Hügel reden: »Wo wohnste nu?« Line begleitete den Gesang mimisch und brachte die Holmenkoll-Distanziertheit auf den Punkt. »Ey, laß dich mitnehmen in meine Stadt, meine Sta-ha-hadt.« Und auf einmal verstand Thomas Brenner, welche Idee die Tochter verfolgte, sie wollte sichtbar machen, daß abstoßende und anziehende Kräfte zusammengehörten. Auf der Bühne herrschte eine wahnsinnig aufgeheizte Stimmung, die Mädchen und Jungs waren mehr als willig, und Lines Chorographie ging bis an die Grenze zum Unanständigen. Die Tänzer konzentrierten sich jeweils auf den Unterleib des Partners, die Mädchen schlugen die Beine um den Hals der Jungen, und alles war plötzlich ziemlich sexuell. »Wo wohnste nu?« Gleichzeitig war eine befreiende Stimmung in dem Tanz und ein gewaltiger physischer Überschuß. »Ey, laß dich mitnehmen in meine Stadt, meine Sta-ha-hadt.«
Als sie fertig waren, ebenso schnell, wie sie begonnen hatten, flippte der jüngere Teil der Zuschauer schier aus, und die gesamte Eröffnungsnummer mußte wiederholt werden, mit Wagner und allem, weil die Musik nicht abgeschnitten werden konnte. Thomas spürte, daß Elisabeth seine Hand nahm. Das war ihre Tochter, ihre Line. Woher hatte sie das bloß? dachte Thomas. All das Sinnliche. So verschieden von der Schwester wie nur möglich. Ehrgeizig. Extrovertiert.
Sie hatte noch ein Jahr am Tanzinstitut. Wovon um Himmels willen sollte sie danach leben? Er wußte, daß das auchElisabeth Sorgen bereitete. Wenn es mit seinem Herzjagen wirklich ernst würde, könnte er nur noch einen Bruchteil dessen leisten, was er gewohnt war. Stellte sich Line etwa vor, den Rest ihres Lebens versorgt zu werden? Rechnete sie mit dem Dahl-Haus, mit dem Erbe? Erst vor ein paar Monaten hatten Elisabeth und Thomas festgestellt, wie hoch verschuldet das Haus eigentlich war. Tulla und Kaare hatten all die Jahre über ihre Verhältnisse gelebt, ohne daß sich Elisabeth und Thomas darüber Gedanken gemacht hätten. Wenn sie Fernreisen unternahmen oder ihr Mobiliar erneuerten, dachten beide, das alte Ehepaar könne sich das leisten.
Aber in den letzten Jahren hatten sie eine neue Hypothek auf das Haus aufgenommen, und jetzt waren die Schulden derart angewachsen, daß es wahrscheinlich für keines der Dahl-Geschwister möglich sein würde, die beiden anderen auszuzahlen. Umgekehrt wußte Thomas, daß auch das Brenner-Haus sehr tief in der Kreide steckte, weil Gordon Brenner von seiner Bank hereingelegt worden war, der Bank mit dem einmal so vertrauenswürdigen Namen Den Norske Creditbank, als junge Berater es geschafft hatten, den alten und inzwischen unbeholfenen Unternehmer zu überzeugen, daß es für ihn lohnend sei, sein ganzes Privatvermögen in diversen Fonds anzulegen.
Das hatte er ganz auf eigene Faust gemacht, ohne sich mit jemandem zu beraten, und schon vor der letzten Finanzkrise hatte er zwei Drittel des Vermögens verloren, das er in einem langen Leben erarbeitet hatte und das zum Teil vom Großvater ererbt war. Aber darüber konnte Thomas Brenner mit seinem Vater nicht sprechen. Er wurde böse und mißtrauisch, wenn der Sohn vom Geld anfing. Insofern glich er durchaus seiner Enkelin Line: Was unangenehm war, darüber sprach man nicht.
Aber Thomas hatte an den vierteljährlichen Kontoauszügen gesehen, daß das Haus im Holmenkollveien mit einer sehr hohen Hypothek belastet war, eine Summe, die die Bank für seine gescheiterten Spekulationen verlangte.
In regelmäßigen Abständen las Thomas Brenner in der Zeitung, wie gerade diese Bank, die eigentliche Nationalbank neben der Bank von Norwegen, seit Jahren ältere Menschen hintergangen und ihnen das Geld abgeluchst hatte, so daß sie ihre Vermögen in unsicheren Fonds verloren. O diese Gier nach dem schnellen Geld, das diese jungen und entsprechend geschulten Bankangestellten einheimsen sollten, eine Habsucht, die sich inzwischen in ihrem Denken fest verankert hatte. Er begegnete
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