Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
an jedem Arm eine Frau. So gingen sie gerne, wenn sie glücklich waren und Rotwein getrunken hatten, aber jetzt hatte Thomas dieses ungute Gefühl, und Elisabeth und Annika merkten es, denn sie hielten ihn besonders fest, als wollten sie ihn trösten.
Sie wußten, wo sie hinmußten, waren hier schon früher gewesen. Im Tanzinstitut fanden zahlreiche Aufführungen statt, die in der Szene wie Weltereignisse gesehen wurden. Thomas Brenner sah, daß andere Eltern zum selben Eingang unterwegs waren. Betuchte Eltern aus Oslos Vestkant mit einigen wenigen Ausnahmen, dazu die Neureichen aus den Vororten, die sich mit Wäschereien oder Taxiunternehmen hochgearbeitet hatten. Aber die Mehrzahl waren Ärzte, Rechtsanwälte und Makler, die sich dazu gezwungen sahen, den kreativen Bedürfnissen ihrer Kinder nachzugeben. Nicht wenige dieser jungen Leute hatten sich in ernsthafteren Studiengängen versucht, hatten aber abgebrochen und arbeiteten nun verbissen daran, Tänzer in Musicals oder bei Rap-Gruppen zu werden, oder versuchten sich in Breakdance. Manche verfolgten auch langfristige Ziele, wollte an die Oper oder in andere, freie Tanzgruppen.
Das Tanzinstitut hatte beengte, abgenutzte Räume, obwohl sie erst vor wenigen Jahren renoviert worden waren. Gleich beim Öffnen der Türen zu dem engen Vestibül bemerkte Thomas Brenner einen unverkennbaren Schweißgeruch. Line stand zusammen mit einer Gruppe Studenten etwas weiter hinten und winkte, als sie sie erblickte. Sie lief ihnen entgegen und umarmte einen nach dem andern.
»Wie schön, daß ihr alle drei gekommen seid!«
Ihre Augen strahlten. Sie trug dunkelblaue Jogginghosen und einen Kapuzenpulli oder wie die Dinger hießen. Thomas konnte sich das nie merken.
Es freute ihn, daß sie glücklich aussah. Er machte sich immer Sorgen über ihre Situation. Seit sie sich so sehr zurückgezogen hatte, gab es Grund genug, besorgt zu sein. Er konnte nicht verstehen, daß der Berufsweg, den sie gewählt hatte, ihr jemals wirkliche Freude bringen würde. War das nicht einfach nur Anstrengung und Mühe mit gnadenlosen Choreographen und überzogenem Ehrgeiz? Außerdem hat sie nicht den Körper dazu, dachte er schon, als sie zur Schule ging und an Schulveranstaltungen teilnahm. Sie war untersetzt und nicht groß genug, keine deprimierenden Bewertungen, die allerdings eine Rolle spielten, wenn man in Schwanensee tanzen wollte.
Und ausgerechnet am klassischen Ballett hing Lines Herz. Mit zwölf Jahren war es ihr gelungen, eine winzige Rolle im Nußknacker an der Norwegischen Oper zu bekommen. Thomas hatte sie zwischen Dagaliveien und Youngstorget hin- und herchauffiert. Sie hatte eine nette kleine Rolle gehabt, mimte irgendein Spielzeug, und die Leute klatschten speziell wegen ihr. Damals hatte sie den Charme des Kindes und bekam viel Lob. Etwas von diesem Lob war ihr in den Kopf gestiegen.
Und seitdem gab es nur noch den Tanz für sie, auch wenn Elisabeth und Thomas sie überreden konnten, nach dem Abitur auf der künstlerisch ausgerichteten Fagerborg-Schule ein vorbereitendes Studienjahr zu machen. Abergleich nachdem das, was sie den Eltern versprochen hatte, absolviert war, ging sie zum Vorspielen und bekam eine Tanzrolle in einem der erfolgreichsten Musicals am Norwegischen Theater, der West Side Story .
Sie machte ihre Sache gut, und Thomas Brenner gehörte nicht zu den strengen Vätern, die ihren Töchtern das Leben schwermachten, aber er verstand trotzdem nicht, wie Line auf lange Sicht Erfolg haben sollte, mit diesem Körper. War sie nicht etwas übergewichtig? Die Schenkel zu dick, die Arme zu kurz?
Derartige Überlegungen hatte er noch nie zu äußern gewagt, nicht einmal Elisabeth gegenüber, und die sagte auch nie etwas. Aber beim Blick auf die Bühne war unübersehbar, daß die Stars im Ensemble die Großen und Schlanken waren, die zudem die interessanteren Choreographien hatten. Line war meistens im Hintergrund und machte Bewegungen, die Thomas an die Gymnastikübungen der Schulzeit erinnerten. Er stellte fest, daß sie manchmal richtige Fehler machte, auf der Bühne ausglitt oder mit ihrem Partner zusammenstieß, was lächerlich aussah. Dann sah man deutlich den Ärger in ihrem Gesicht, und den, dachte Thomas, sollte sie lieber nicht zeigen.
All das führte nur dazu, daß seine Zuneigung zu ihr wuchs. Er gehörte nicht zu den Vätern, die ihre Nachkommen ständig kritisieren mußten, davon gab es schon genug. Zum Glück war das weder in der Brennerfamilie noch in
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