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Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Titel: Die Unsterblichen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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der Dahlfamilie üblich. Sie flossen über vor Emotionen und lobten ihre Kinder bei jeder sich bietenden Gelegenheit.
    Thomas bekam fast ein schlechtes Gewissen, wenn er an einige seiner Klassenkameraden aus der Gymnasiumszeit dachte, die zu Hause regelrecht unterdrückt wurden. Sie sollten sich vor allem nicht einbilden, jemand zu sein.Hatten sie bei einer Shakespeare-Aufführung in der Schule wirklich gut gespielt, kamen immer sofort die Mutter oder der Vater mit Tadel und Kritik. War die Rolle nicht zu anspruchsvoll? Hatten sie nicht Schwierigkeiten mit ihren Einsätzen? War da nicht ein Fehler in dem berühmten Monolog? Bewußte, jahrelange Demütigungen. Das prägte diese Schüler, schnürte sie ein, machte sie zurückhaltend und unsicher.
    Manchmal auf Festen platzten sie, zerbrachen beinahe physisch, drohten mit den Fäusten und verfluchten ihre Eltern, die sie zur Welt gebracht hatten, um an ihnen zu zweifeln und sie zu demütigen und zu schikanieren. Ständig wiederkehrende Geschichten über die begabtesten Schüler der Klasse. Mildred Låtefoss gehörte beispielsweise dazu. Sie hatte Eltern, die es nicht einmal billigten, daß sie auf das humanistische Gymnasium kam. Sie befürchteten, die Tochter würde »Schande über die Familie bringen«, wie sie sagten. Schande über die Familie. Mildred sollte das nie vergessen. Wenn sie eine Flasche Wein oder mehr getrunken hatte, brach es aus ihr heraus. Verbitterung, fast Haß, steckten in ihr und vergifteten ihre Gefühle.
    So war es weder bei den Dahls noch bei den Brenners. Und deshalb bestärkten Elisabeth und Thomas ihre Kinder. Natürlich bestärkten sie Line, die jetzt in der entscheidenden Phase ihres Lebens war. Herrgott, dachte Thomas, es war ja die Phase im Leben, mit Anfang Zwanzig, in der die Weichen gestellt wurden. Genau da hatte Annika ihren Antrieb verloren und sich zurückgezogen, da war Thomas seine Verbindung mit Elisabeth eingegangen, und da hatte sich Line für das Tanzen entschieden.
    Sie wissen ja nicht, wie schnell es geht, dachte Thomas, und man ist plötzlich achtundfünfzig und man kann sich ausrechnen, daß das aktive Berufsleben in neun Jahrenbeendet sein wird. Neun Jahre, weil irgendein Idiot siebenundsechzig Jahre als Grenze festgelegt hatte. Danach folgten Ferien, Resignation und Vorbereitung auf den Tod, falls man es nicht wie die Schwiegereltern und Vater und Mutter schaffte, diese Altersjahre zu einer fast transzendentalen Reise zu machen. Vielleicht sollten sich er und Elisabeth an Jane Fonda orientieren und noch mit über siebzig Jahren eineinhalb Stunden Sex haben. Solche Gedanken gingen ihm durch den Kopf, während ihnen in dem kleinen Saal, in dem die Bühne den größeren Teil einnahm, die Plätze angewiesen wurden, eine Tanzwerkstatt eben. Line hatte ihr eigenes Stück choreographiert, die Vestkantpakistani, sie machte so etwas zum ersten Mal, und es war ungeheuer wichtig für sie, das wußten alle, und deshalb waren sie gekommen.
     
    Neben all den Eltern waren Freunde der Studenten gekommen, sicher Tänzer von anderen Instituten oder Akademien, wie heutzutage diese Schulen hießen, in denen man sogar lernen konnte, Bücher zu schreiben. Früher hieß das einfach nur Kunst. Kunst- und Handwerksschulen, Tanzschulen, Malschulen. Schriftstellerschulen gab es nicht. Wie viele Akademien und Institute gab es eigentlich in Norwegen, überlegte er plötzlich, verunsichert darüber, daß er etwas instinktiv negativ beurteilte, was natürlich sehr positiv war; die Kunst und die Kultur auf ein höheres Niveau zu heben. Aber dann bestätigten sich seine Vorurteile, als er sah, wie sich die Leiterin des Tanzinstituts auf der Bühne produzierte, eine dieser Enthusiasten, wie sie zur Zeit überall herumwimmelten. Auch in der Gemeinschaftspraxis tauchten regelmäßig welche auf, mit Broschüren, mit Unterschriftensammlungen, Bittbriefen und Berichten über Projekte. Sie waren Enthusiasten, undsie hatten eine Botschaft, eine Berufung, und das, was sie machten, war das Wichtigste auf der Welt, sie sahen nichts anderes, sahen keine über ihre Aktionen hinausgehenden, tieferen Zusammenhänge. Sie leiteten Museen, Institute, Akademien, renovierten alte Gehöfte, richteten Fischerdörfer her, kämpften für oder gegen politische Entscheidungen. Es war unmöglich, sie nicht zu mögen. Die meisten von ihnen waren reizende Personen, meist mit etwas bunten Lebensläufen, wie sie bei Interviews in Radio und Fernsehen preisgaben. In der Regel hatten

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