Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
ihnen in seiner Arztpraxis, wenn sie blutdrucksenkende Mittel verlangten. Der Kapitalismus hatte eine ungesunde, erregende Wirkung auf sie. Es gelang ihnen nicht, auf eine niedrigere Drehzahl zu kommen. Solange ein Arbeitstag die Möglichkeit bot, mehr Geld zu verdienen, waren diese jungen Männer, nur ausnahmsweise Frauen, zutiefst unruhig und panisch, hatten Angst, etwas zu versäumen. Einige davon saßen in seiner Nähe und applaudierten in diesem Moment. Sie waren Arbeitstiere. Sie waren Mittelfeldspieler oder Mittelsmänner, die nie ein Tor schossen und auch nie in der Lage waren, sich entsprechend zu verteidigen. Man hatte ihnen einige Spielregeln eingetrichtert, und sie waren ganz offensichtlich Spieler , während ihre Chefs, wie der gutmütige, etwas provinzielle Bankdirektor, oft über fünfzig Millionen Kronen als Bonus und Entlohnung erhielten und das Ganze so hinstellten, als handle es sich dabei um die gewohnte, alljährliche Weihnachtsgratifikation. Die Chefs beherrschten die Codesprache für das alte und das neue Norwegen. Sie saßen in den Freitags-Talkshows im Fernsehen und redeten wie der Kinderstundenonkel. Der Bankdirektor hatte in seinem Wesen etwas vom Sandmännchen, etwas unschuldig und beinahe besorgt, wodurch er schamlos diese fünfzig Millionen Dividende rechtfertigen konnte, und das in einer Zeit, in der das Alltags-Norwegen mit den größten Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Mittlere Betriebe mußten schließen, fristlose Kündigungen waren wieder an der Tagesordnung, Stichwort: Arbeitsplätze verlagern. Die Gewerkschaften wurden übergangen. Der Ruf nach Gewinnen machte es möglich. Größere Dividenden für die Aktionäre. Höhere Rendite für die Reichsten. Mehr und mehr setzten sich die neuen amerikanischen Methoden durch: »Zwanzig von euch werden in der nächsten Viertelstunde eine Mail erhalten. Geht in eure Büros und wartet. Wer keine Mail bekommt, kann bleiben. Die andern packen ihre Siebensachen und verschwinden.« Die Leute wußten, wie hart es geworden war. Sie wußten, daß es sie jederzeit treffen konnte. Deshalb trainierten sie ihre Widerstandskraft in der Hoffnung, den Herausforderungen, die sicher kommen würden, gewachsen zu sein. Diese Brutalität überstieg wirklich alles, dachte Thomas Brenner. Es ärgerte ihn gewaltig, wenn er für solche Typen, die verantwortlich dafür waren, daß ihre Mitarbeiter schlaflose Nächte hatten, egal ob es sich dabei um Chefs, Lakaien oder Mittelfeldspieler handelte, blutdrucksenkende Mittel verschreiben mußte. Er wünschte ihnen zwar nicht den Tod, aber etwas mehr leiden sollten sie.
Er hatte persönlich keine Probleme damit, daß sein Vater diese ungeheure Menge Geld verloren hatte, aber er wollte einfach, daß diese Menschen irgendwann einmal darüber nachdachten, was sie eigentlich trieben. Konnten sie nicht aufhören, jedenfalls ab und zu, und sich von außen betrachten, wie sie herumliefen und Gespräche anihren Handys führten, Frauen, Kinder und Hunde anbrüllten und sich in einer Dauerstreßsituation befanden, die auch die Gesellschaft prägte, von der sie ein Teil waren. Sie hatten gelernt zu schreien, genauso wie sein Vater. Sie schrien in der Börse, in der Langlaufloipe, auf dem Fahrrad, im Auto. Sie waren ständig hektisch unterwegs. Sie konnten einem leid tun, dachte Thomas Brenner. Sie waren krank. Aber die Krankheit, an der sie litten, erzeugte bei ihren Mitmenschen weder Sympathie noch Mitleid. Es führte bei ihnen nur zu Verärgerung und Neid. Eines schönen Tages würden sie wie die Hühner die Hackordnung praktizieren, dachte er. Und sie wüßten vielleicht gar nicht, warum.
Line und die anderen Tänzer zogen sich von der Bühne zurück, und ein neuer Choreograph übernahm. Aber Line mußte noch mit den anderen auftreten. Nachdem sie einen Augenblick hinter den Kulissen verschwunden war, erschien sie wieder in einem engen und eher klassischen Ballettkleid. Er liebte sie, wenn sie selbstsicher war, war aber nie imstande, sich von dem Mitleid zu befreien, das er seit ihrer Geburt für sie empfand, ein Gefühl, das er auch für Annika empfand, als stünde er mit ihnen zum erstenmal auf der Kunsteisbahn und sähe, wie wenig sie zurechtkamen, wie sie auf X-Beinen wackelten, wie sie förmlich um Hilfe schrien.
Egal wie selbstsicher Line da auf der Bühne stand, mit den Armen gestikulierte und Gebärden machte, so war sie dennoch völlig abhängig von ihm, jedenfalls finanziell. Sie war die kleine Schwester und
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